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"Multikulti ist tot!"

16. Oktober 2010

Führende Unionspolitiker befeuern die Debatte über Integration von Ausländern in Deutschland. Kanzlerin Merkel erklärt die multikulturelle Gesellschaft für "gescheitert, absolut gescheitert".

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Bundeskanzlerin Merkel (Foto: dapd)
Bundeskanzlerin Merkel fordert Bekenntnis zum ChristentumBild: dapd

Die Bemühungen um den Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland seien fehlgeschlagen, sagte Merkel am Samstag (16.10.2010) beim Deutschlandtag der Jungen Union (JU) in Potsdam: "Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert." In der Vergangenheit sei zu wenig verlangt worden, meinte die Kanzlerin. Es sei aber eine berechtigte Forderung, dass Zuwanderer die deutsche Sprache lernten, um eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Zwangsehen seien nicht akzeptabel, und natürlich müssten auch Mädchen aus Migrantenfamilien auf Schulausflüge mitgehen dürfen. Zugleich müsse dafür gesorgt werden, dass Straftaten rasch abgeurteilt würden und es keine Stadtteile gebe, in die sich die Polizei nicht hineintraue.

Seehofer (2.v.l.) neben dem Bundesvorsitzenden der Jungen Union, Philipp Missfelder (l.) (Foto: dapd)
Seehofer erhielt viel Beifall für seine Rede beim Deutschlandtag der Jungen UnionBild: dapd

Merkel verteidigte zugleich die in Teilen der Unionsparteien umstrittene Aussage von Bundespräsident Christian Wulff, wonach der Islam ein Teil Deutschlands sei. "Er ist ein Teil Deutschlands - das sieht man nicht nur am Fußballspieler (Mesut) Özil", betonte Merkel mit Verweis auf den türkischstämmigen Torschützen der deutschen Fußballnational-Mannschaft. Tags zuvor hatte die Kanzlerin bei einer CDU-Regionalkonferenz in Berlin allerdings auch betont: "Wir fühlen uns dem christlichen Menschenbild verbunden. Das ist das, was uns ausmacht." Wer das nicht akzeptiere, "der ist bei uns fehl am Platz".

Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer hatte auf dem JU-Kongress bereits am Vorabend die in Deutschland lebenden Ausländer zur Integration aufgefordert. Die hier lebenden Menschen müssten sich zur deutschen Leitkultur bekennen, sagte er und bekam für diese Worte viel Beifall. Integration bedeutet aus Seehofers Sicht, christliche Werte zu achten, sich zu qualifizieren und sich zu integrieren. Ohne Beherrschung der deutschen Sprache könne dies nicht gelingen. "Wir dürfen nicht zum Sozialamt für die ganze Welt werden", mahnte der CSU-Chef und rief: "Multikulti ist tot!"

Kritik an Seehofer

Stephan J. Kramer, Generalsekretär Zentralrat der Juden in Deutschland (Archivfoto: dpa)
Stephan J. Kramer, Generalsekretär Zentralrat der Juden in DeutschlandBild: picture-alliance/Sven Simon

Für seine Äußerungen zur Integration wurde Seehofer vom Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, kritisiert. Der "Rheinpfalz am Sonntag" sagte Kramer, offenbar sei die Hemmschwelle, mit fremdenfeindlichen und den sozialen Frieden gefährdenden Aussagen und zudem mit sachlich falschen Behauptungen auf Stimmenfang zu gehen, selbst unter Politikern demokratischer Parteien deutlich gesunken. "Das ist nicht nur schäbig, sondern geradezu verantwortungslos." Seehofer hatte in einem Interview vor seinem Auftritt beim Deutschlandtag der JU gesagt, Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern täten sich schwerer bei der Integration. Daraus ziehe er den Schluss, "dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen".

Kramer kritisierte auch Familienministerin Kristina Schröder (CDU), die in der "Deutschfeindlichkeit" auch Rassismus entdeckt haben wolle. Sie zitiere Stammtischparolen, statt sich des Problems anzunehmen, sagte Kramer. Die Debatte sei "unverhältnismäßig, scheinheilig und hysterisch".

Schavan: Deutsch auf dem Schulhof

Auch Bundesbildungsministerin Annette Schavan mischt sich in die Integrationsdebatte ein. Nach ihrer Meinung sollte Deutsch "natürlich die Sprache auf dem Schulhof sein". In einem Interview der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstagausgabe) sagte die Vizechefin der CDU, Vorschriften stünden dabei aber nicht im Vordergrund. Wichtig seien frühe Sprachförderung und möglichst enge Kontakte der Schule zu den Elternhäusern, auch mit Hilfe von Sozialarbeitern. "Wir müssen es schaffen, dass jedes Kind am ersten Schultag den Lehrer versteht", unterstrich Schavan.

Unterstützung erhielt Schavan vom türkischen Präsidenten, Abdullah Gül. Er forderte in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" (Samstagsausgabe), die ehemaligen Gastarbeiter aus der Türkei und ihre Nachfahren müssten einwandfrei deutsch sprechen können. "Deshalb sage ich bei jeder Gelegenheit, sie sollen deutsch lernen, und zwar fließend und ohne Akzent." Wenn man die Sprache des Landes, in dem man lebt, nicht spreche, nutze das niemandem. Das Lernen der deutschen Sprache müsse im Kindergarten beginnen, forderte Gül.

Merkels Schuldzuweisung

Merkel lastet die Schuld an den aktuellen Problemen bei der Integration den Vorgängerregierungen an. "Die Versäumnisse von 30, 40 Jahren können nicht so schnell aufgeholt werden", sagte sie am Freitag auf der CDU-Regionalkonferenz.

Autor: Martin Schrader (afp, dpa, rtr)

Redaktion: Pia Gram