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Mensch bleiben in Gaza

13. November 2009

Ein Jahr lang war Vittorio Arrigoni im Gazastreifen. Es waren Tage der Not und Nächte der Angst, die er dort während des Krieges verbrachte. In "Gaza - Mensch bleiben" dokumentiert er seine Erlebnisse.

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Ein Palästinenser trägt sein verletztes Kind nach einer israelischen Militäroffensive auf den Gazastreifen im Dezember 2008 (Foto: dpa)
Nach einer israelischen Militäroffensive im Dezember 2008Bild: picture-alliance / dpa

Dass Vittorio Arrigoni im Herbst 2009 in Berlin sein kann, um sein Buch über seine Zeit im Gazastreifen vorzustellen, verdankt er nur dem Glück. "Es ist wie ein Lotterie-Gewinn", sagt er mit ernstem Gesicht. "Ich habe das unglaubliche Glück gehabt, ein Massaker zu überleben."

Massaker nennt er die israelische Militäroffensive gegen den Gazastreifen vom letzten Dezember und Januar. Drei Wochen dauerte die "Operation Gegossenes Blei". Dann waren rund 1.400 Palästinenser tot, die meisten von ihnen Zivilisten, nahezu 100.000 Menschen hatten ihre Häuser verloren. Die israelische Armee habe keinen Unterschied gemacht zwischen Militanten und Zivilisten, zwischen Palästinensern und Ausländern, sagt Arrigoni im Rückblick auf diese Zeit.

Bloggen aus Gaza

Der Autor im Gespräch mit Kindern in Gaza
Der Autor im Gespräch mit Kindern in GazaBild: Vittorio Arrigoni

An Bord eines kleinen hölzernen Fischerbootes war der italienische Friedensaktivist im August 2008 im Hafen von Gaza angekommen. Es war eines der ersten Boote, das die hermetische Sperre durchbrach, die Israel und die internationale Staatengemeinschaft über den Gazastreifen verhängt haben. Arrigoni erinnert sich an die Freude der Palästinenser, als die zwei kleinen Boote ankamen: "An dem Tag waren im Hafen von Gaza Tausende von Palästinensern, die uns empfingen und mit uns feierten, denn es war das erste ausländische Schiff seit 1967. Wir haben nicht nur Hilfsgüter mitgebracht, sondern auch 43 Aktivisten aus 17 Ländern." Zwölf der Aktivisten blieben in Gaza, unter ihnen auch Vittorio Arrigoni, der als Internetblogger mit seinen regelmäßigen Berichten aus Gaza einem größeren Publikum in Italien und darüber hinaus bekannt wurde.

Menschliche Schutzschilde

Die Aktivisten vom "International Solidarity Movement" (ISM), einer im Jahr 2001 gegründeten internationalen Bewegung zur Unterstützung der Palästinenser, stellten sich als menschliche Schutzschilde zur Verfügung. Während des israelischen Angriffs auf Gaza im Dezember und Januar begleiteten sie zum Beispiel Krankenwagen, die Verletzte bergen wollten. Dabei wurden sie immer wieder Zeugen, wie israelische Soldaten auf Sanitäter und Verletzte schossen. Auch Arrigonis Freund Arafa, ein freiwilliger Helfer und Vater von vier Kindern, wurde bei einem solchen Einsatz getötet.

Doch auch nach dem Ende des Gaza-Krieges gibt es für die internationalen Aktivisten noch genug zu tun. So begleiten sie bis heute die palästinensischen Fischer hinaus aufs Meer, wo sie oft von der israelischen Marine angegriffen werden. Oder sie helfen den Bauern in den grenznahen Gebieten. Denn Israel hat einen 500 Meter breiten Streifen entlang der Grenze zum Sperrgebiet erklärt, den Palästinenser nicht betreten dürfen. "Man muss sich vorstellen, was 500 Meter ausmachen in einem Streifen, der an manchen Stellen nur fünf Kilometer breit ist", erklärt Arrigoni. "Von diesen 500 Metern Land leben Tausende von Palästinensern und darum müssen die Bauern dort hingehen, um ihre Felder zu bestellen und ihre Familien zu ernähren."

Palästinenser besichtigen die Trümmer ihrer ehemaligen Häuser im Januar 2009 (Foto: AP)
Folgen des Krieges: Viele Häuser in Gaza wurden zerstörtBild: AP

Beweise auf Video

Mit Videokameras haben die Aktivisten vom International Solidarity Movement dokumentiert, was sich in den grenznahen Gebieten immer wieder abspielt: palästinensische Bauern, die versuchen zu ernten, israelische Soldaten, die von jenseits des Zauns auf sie schießen und internationale Aktivisten, die dazwischen stehen und die Soldaten über Megaphon auffordern, nicht zu schießen. Arrigoni war dabei, als ein taubstummer Bauer beschossen wurde, und er war auch dabei, als eine Beduinenfamilie den Leichnam eines Angehörigen suchte, der im Grenzgebiet verschwunden war. Unter ständigem Beschuss der israelischen Soldaten fanden sie schließlich die schon halb verweste Leiche im hohen Gras. Der Mann war Wochen zuvor an dieser Stelle erschossen worden, als er sein Feld ernten wollte.

Nach einem Jahr verließ Vittorio Arrigoni den Gazastreifen wieder, um sich von den Strapazen zu erholen und um in Europa über die Lage in dem isolierten Landstrich zu berichten. "Die Wunden des Krieges sind noch überall zu sehen", berichtet er bei der Vorstellung seines Buches in Berlin. Fast ein Jahr nach dem Ende der Offensive lebten die obdachlos Gewordenen noch immer in Zelten auf den Trümmern ihrer Häuser. Für sie, für die Überlebenden und die Toten dieses Krieges, wolle er die Stimme sein, sagt Arrigoni.

Vittorio Arrigoni, „Gaza – Mensch bleiben“, mit einem Vorwort von Ilan Pappe, Zambon-Verlag 2009, 143 Seiten