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Urs Widmer ist tot

Stefan Dege3. April 2014

Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer ist tot. Mit ihm verliert die Schweiz eine ihrer stärksten intellektuellen Stimmen. Denn er beherrschte die Kunst, anspruchsvoll und populär zugleich zu erzählen. Ein Nachruf.

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Urs Widmer
Bild: picture-alliance/dpa

Mit großen Büchertischen unter einem rot-weißen Baldachin, so präsentierte sich die Schweiz erst vor wenigen Wochen als Gastland der Leipziger Buchmesse. Da war die Abschottung des Alpenlandes gegenüber Zuwanderern schon beschlossene Sache und der Imageschaden groß. Die Schweiz ein gespaltenes Land, halb Trutzburg, halb weltoffen? Zur Buchmesse hatte Urs Widmer sein "Fragmentarisches Alphabet zur Schweizer Literatur" beigesteuert, das in einem kleinen helvetischen Brevier erschien, darin das Bekenntnis: "Auch wir gehören zu Europa." Aber mehr noch: " zur Welt."

Eines kann man Urs Widmer gewiss nicht absprechen – und warum auch? – nämlich Weltoffenheit im Denken und im Schreiben. Das Ende seines literarischen Schaffens sah er schon im vergangenen Jahr gekommen. Da pilgerte die Literaturjournaille wegen seines 75. Geburtstages an Widmers Schaffensort, das kleine Gartenhaus im gutbürgerlichen Zürcher Stadtteil Hottingen. Um doch nur zu konstatieren, was Leserinnen und Leser längst wussten und seit Jahr und Tag an dem Schweizer Literaten schätzten: Widmers Grenzgängertum zwischen ernst und fröhlich, anspruchsvoll und vergnüglich, intelligent und unterhaltsam.

Buchcover: Widmer - Der Geliebte der Mutter
Urs Widmers erfolgreichster Roman: "Der Geliebte der Mutter"

Meister der Zwischentöne

Der Schweizer bediente beides. Sprache ging ihm nicht nur leicht von der Hand. Er beherrschte die Klaviatur der Zwischen- und Untertöne, erzeugte mit seiner Fabulierkunst nach Belieben widersprüchliche Stimmungen, schickte seine Leserschaft auf eine Achterbahn der Gefühle. Gelegentlich ist Urs Widmer mit Woody Allen verglichen worden. Ähnlichkeiten in künstlerischer Handschrift und Struktur des Haupthaares waren nicht von der Hand zu weisen.

Zwischen dem Versiegen seiner literarischen Quelle, das ihm ohnehin niemand abnahm, bis zu den ersten Zeilen, die Widmer lange vorher in seine alte Olivetti getippt hatte, lagen ganze 47 Jahre. Am Anfang stand, wenn man seiner 2013 erschienenen Autobiographie "Reise an den Rand des Universums" glauben darf – und warum auch nicht? – eine Art künstlerischer "Urknall". Der junge Mann hatte eine Lektoratsstelle im Frankfurter Suhrkamp Verlag angetreten. Eines Abends spannte er in seiner Wohnung ein Blatt ein und tippte drauflos: "Aus meinem Kamin kommt Rauch, jetzt scheint die Sonne". Es war der erste Satz des ersten veröffentlichten Textes von Urs Widmer, eine experimentelle Erzählung, der Titel: "Alois".

Urs Widmer
Der Vergleich Urs Widmers mit Woody Allen lag nah - wegen des künstlerischen Stils und der aufgewühlten HaarprachtBild: Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Nach schwerer Krankheit gestorben

Zwischen Autobiographie und Erstlingswerk spannte Widmer dann ein literarisches Panorama auf, das seinesgleichen sucht. Rund drei Dutzend Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Essays und andere Werke erschienen allein in Widmers Stammverlag Diogenes, darunter "Indianersommer", "Kongo", "Liebesnacht", "Der blaue Siphon", "Das Paradies des Vergessens", "Ein Leben als Zwerg". Urs Widmers größter Romanerfolg war zweifellos das autobiografisch inspirierte Buch "Der Geliebte der Mutter", sein meistgespieltes Theaterstück das Spitzenmanager-Drama "Topdogs", in dem er von den Verheerungen der globalisierten Wirtschaftswelt erzählte.

Seine Vielseitigkeit macht Urs Widmer zu einem der wichtigsten Schweizer Dichter in der Generation nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Für sein umfangreiches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet. An diesem Donnerstag ist Urs Widmer 75-jährig, nach schwerer Krankheit in seiner Schweizer Heimat gestorben.