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Mauern in den Köpfen

Wolfgang Dick3. Oktober 2013

Der Aufbau der Infrastruktur in Ostdeutschland gilt 23 Jahre nach der Wiedervereinigung als fast abgeschlossen. Doch bei vielen Menschen in Ost und West sind Vorurteile geblieben. Als ein Volk sehen sie sich nicht.

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Menschen aus Ost und West auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor im November 1989 (Foto: AP)
Bild: AP

Von 1961 bis 1989 waren die Menschen in Ostdeutschland buchstäblich eingemauert - gefangen auf dem Gebiet der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet wurde. Flucht war kaum möglich. In der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sollte der Sozialismus gelebt werden. Doch Ende der 1980er-Jahre war das politische Experiment gescheitert.

Als die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands 1989 geöffnet wurde, zogen Heerscharen von Ostdeutschen nach Westdeutschland - Freiheit spüren, reisen und endlich einmal einkaufen, was es in der DDR nicht gab. So verschwand Kleidung von der Bildfläche, an der man Ostdeutsche damals sofort erkannte: hellgraue Schuhe, Kunststoffjacken oder Jogginganzüge aus Fallschirmseide. Ebenso veränderten sich die Frisuren - von der luftgetrockneten Dauerwelle hin zum modernen Haarschnitt. Schnell waren die damals oft als "Ossis" bezeichneten Menschen äußerlich nicht mehr von Westdeutschen zu unterscheiden. Tief im Inneren gab es weiter Unterschiede, Vorurteile blieben.

Vorurteile der Ostdeutschen

"Sie sind arrogant, immer auf das Geld aus, bürokratisch und oberflächlich", so fasst Thomas Petersen vom Meinungsforschungsinstitut Allensbach zusammen, was viele Ostdeutsche heute noch über Westdeutsche denken. Die repräsentative Umfrage des Instituts aus dem Jahr 2012 zeigte auch, dass Ostdeutsche mehr Vorurteile gegenüber Westdeutschen haben als andersherum. Das Institut Forsa hat zudem herausgefunden, dass Ost- und Westdeutsche sich immer noch nicht als ein Volk ansehen.

Eine Reihe ostdeutscher Autos und Tausende Menschen kommen nach der Öffnung des Checkpoint Charlie in den Westen (Foto: AFP/Getty Images)
Maueröffnung am Checkpoint Charlie 1989: Bürger zweiter KlasseBild: AFP/Getty Images

Menschen aus Ostdeutschland empfinden sich sogar als "Bürger zweiter Klasse", berichtet Andreas Zick. Der Soziologe an der Universität Bielefeld hat in seinen Untersuchungen festgestellt, dass viele die Lebensbedingungen in Ostdeutschland als Diskriminierung ansehen. Zwar seien nahezu alle Straßen und Häuser der ehemaligen DDR modernisiert und die Infrastruktur auf dem neuesten Stand, aber die Löhne liegen aktuell rund 20 Prozent unter dem Niveau in Westdeutschland. Die Renten sind zehn Prozent niedriger als im Westen.

Aus Sicht von Wirtschaftsforschern liegt das unter anderem an der Art der Firmen, die in Ostdeutschland existiert: Häufig sind es Zulieferer für Unternehmen im Westen. Selten gibt es Firmenzentralen mit hochdotierten Jobs. Hunderte von Milliarden Euro Subventionen haben diese Entwicklung nicht ändern können. "Es gibt große Enttäuschungen", hält Soziologe Andreas Zick fest.

Vorurteile der Westdeutschen

Auch bei Westdeutschen existieren immer noch Klischees über die nur noch selten als "Ossis" bezeichneten Menschen der ehemaligen DDR. Nach Umfragen führender Meinungsforschungsinstitute unter "Wessis" sind Ostdeutsche angeblich unzufrieden, misstrauisch und ängstlich. Die Eigenschaften "leistungsbereit" und "flexibel" schreiben nur 43 Prozent der Westdeutschen den Ostdeutschen zu.

Den Solidaritätsbeitrag, eine Abgabe zur Finanzierung der deutschen Einheit und zum Wiederaufbau Ostdeutschlands, möchten die meisten Westdeutschen so schnell wie möglich abschaffen. Wenn Westdeutsche sich als ewige Zahlmeister für ihre Brüder und Schwestern in Ostdeutschland empfinden, vergessen sie allerdings, dass Ostdeutsche diese Sondersteuer ebenfalls zahlen. Alleine diese Tatsache zeigt, dass die Einheit in den Köpfen der Bevölkerung immer noch nicht ganz vollzogen ist.

Ursachen und Aussichten

In eine Deutschland-Flagge eingehülltes paar küsst sich (Foto: picture alliance/dpa)
Feiern zur Wiedervereinigung 1990: Zu wenig KontakteBild: picture-alliance/dpa

"Zwischen Ossis und Wessis gibt es einfach zu wenig Freundschaften, zu wenig Kontakte und Beziehungen, wie man sich das wünschen würde", erklärt Soziologe Andreas Zick die Kluft in den gegenseitigen Ansichten. Meinungsforscher Thomas Petersen stellt dazu klar, dass dies nicht als gegenseitiges Desinteresse gewertet werden kann. "Westdeutschland ist einfach vier Mal größer als der Osten." Da spielten Distanzen eine große Rolle, warum man sich nicht häufiger begegne, um sich besser kennenzulernen. Letztlich sei aber alles auch nur eine Frage der Zeit.

"Die zweite und dritte Generation nach der Einheit ist viel optimistischer und sieht mehr Gleichwertigkeit zwischen Ost und West", bestätigt Soziologe Zick. Und Allensbach-Forscher Thomas Petersen stellt fest: "Der Anteil derjenigen, die mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland sehen, ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen".

Inzwischen gibt es junge Erwachsene, die die Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands nie kennengelernt haben. So sei - anders als bei Umfragen vor zehn oder 15 Jahren - der aggressive Unterton vieler Meinungsäußerungen heute kaum noch feststellbar. Ob und wann die Unterschiede in den Köpfen der Menschen ganz verschwinden werden, das wagen die Meinungsforscher nicht vorherzusagen. In einem seien sich Ossis und Wessis aber immer einig gewesen: Mehrheitlich empfinden alle die Wiedervereinigung mit einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Anlass zur Freude.