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Made in Germany - einst billig statt gut

15. November 2011

Ein Blick in die europäische Industriegeschichte zeigt, dass die Chinesen nicht die ersten sind, die Produkte imitieren oder Urheberrechte verletzen. Im 19. Jahrhundert verfolgte Deutschland die gleiche Strategie.

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Jemand schaut mit einem Fernglas durch eine Jalousie aus Lamellen (Foto: Fotolia)
Abgucken, was der andere kann - nicht nur China macht dasBild: Fotolia/Dron

Deutsche Produkte, insbesondere technische, haben den Ruf, hervorragend konstruiert und qualitativ hochwertig zu sein. Das war nicht immer so. Im Gegenteil. Die lose verbundenen deutschen Kleinstaaten, die 1871 unter Wilhelm I. zum ersten deutschen Kaiserreich zusammengefasst wurden, waren reine Agrargebiete und hinkten den anderen westeuropäischen Staaten in punkto Industrialisierung hoffnungslos hinterher. Schuld daran waren unter anderem die regionalen und politischen Fragmentierungen jenes Kleinstaatenverbands, in dem weder eine einheitliche Währung, noch einheitliche Maße und Gewichte oder gar fiskalisch-ökonomische Rahmenbedingungen existierten.

England setzt Maßstäbe

Portraitbild von Olaf Plötner von der EMST
Gastautor Olaf Plötner von der ESMTBild: ESMT

Erst der 1834 in Kraft tretende Deutsche Zollverein sorgte für die Anfänge einheitlicher und halbwegs stabiler handelspolitischer Verhältnisse, die sich nicht zuletzt in der verbesserten Infrastruktur niederschlugen und da hauptsächlich im Aufbau des Eisenbahnnetzes. Aber das, was wir heute als Industrialisierung bezeichnen, begann in Deutschland sehr langsam um das Jahr 1840, also etwa fünfzig Jahre nach Englands industrieller Revolution. Ein einheitliches Zoll- und Handelsgebiet wurde Deutschland erst mit der Reichsverfassung von 1871.

Doch da hatte England für die moderne gewerbliche Produktion längst die Maßstäbe gesetzt und der englischen Industrie gleichzeitig eine monopolartige Vormachtstellung verschafft, die durch Ausfuhrverbote für bestimmte Maschinen, unter anderem Spinnmaschinen, und Auswanderungsverbote für Maschinenbauer und Facharbeiter gestärkt wurde.

"Studienreisen" nach England

Die Deutschen, die sich der Industrialisierung so verspätet geöffnet hatten, verlegten sich auf Industriespionage, um ihren Einstieg in diese neuen technischen Entwicklungen und die damit verbundenen Geschäfte und Gewinne zu finden. Selbst namhafte Politiker wie Carl August von Hardenberg, Heinrich F. K. vom und zum Stein, Christian P.W. Beuth oder der Maler und Architekt Karl Friedrich Schinkel brachen zu sogenannten Studienreisen nach England auf, um sich die Industriestädte anzuschauen, sich in den Fabriken umzusehen, die Maschinenanlagen zu studieren und die Maschinen zu kopieren. Im gleichen Auftrag waren in England deutsche Studenten mit großzügigen Forschungsstipendien ausgestattet unterwegs. Natürlich ist es deutschen Fabrikanten auch gelungen, englische Maschinen offiziell zu kaufen, aber wenn nicht, wurden sie nachgemalt, geraubt oder mit Hilfe von Bestechungsgeldern erworben.

Ein Tagebucheintrag Schinkels veranschaulicht seinen und Beuths Besuch in England, mit der ganzen Mischung aus Bewunderung, Sehnsucht und Gier gegenüber dem Entdeckten, so perfekt, dass ich ihn in Länge wiedergeben möchte: "… Dann besuchten wir eine Bleiweißfabrik mit hohem Schrotturm, von dem man eine schöne Aussicht genießt. Die Walzen, um das Bleiweiß vom Blei zu schneiden, werden stets nur unter Wasserbesprengung in Bewegung gesetzt, damit der ungesunde Staub vermieden werde. (…) Beim Abschiede empfing der gefällige Mr. Strutt von uns eine große bronzene Medaille mit Blüchers Bildnis zum Andenken. Wir gingen noch alleine in die Werkstatt des Mr. Fox und sahen dessen schöne Drehbänke, die berühmte Hobelmaschine. (…) Ein anderer Fabrikant, welcher Bratöfen macht, wurde auch noch aufgesucht, dann das Magazin für Kunstwerke in Flußspat besichtigt und einige Kleinigkeiten daselbst gekauft. Der Besitzer zeigte uns seine Werkstatt, worin sich eine gute Einrichtung zum Schleifen und Sägen befand. Abends schrieben wir im Wirtshaus am Tagebuch …"

Billigware aus Deutschland

Eine weitere Möglichkeit, um das industrielle und wirtschaftliche Defizit zu verringern, bestand für die Deutschen im Abwerben ausländischer Industrieexperten. Preußen begann damit schon im Jahr 1815, indem es die Gebrüder John und James Cockerill aus den Niederlanden nach Berlin lockte, um in einem ihnen zur Verfügung gestellten Gebäude auf eigene Kosten eine Wollspinnerei und Maschinenbauanstalt zu gründen und deutschen Arbeitern die Bedienung zu demonstrieren. Nach zehn Jahren, so die Abmachung, sollten Grundstück und Gebäude in das Eigentum der Brüder Cockerill übergehen, was dann auch geschah. Die preußische Regierung war offenkundig zufrieden.

Dennoch konnten die preußischen Maschinen und die von ihnen produzierten Güter das Niveau ihrer Vorbilder nicht von heute auf morgen erreichen. Noch 1876 urteilte ein deutscher Preisrichter auf der Weltausstellung in Philadelphia, dass die Ausstellungstücke aus Deutschland "billig und schlecht" seien. Das war so um die Zeit, in der die Deutschen statt ihrer üblichen Ware aus Zucker, Kartoffeln und Stickereien, anfingen Sägen, Messer und Feilen zu exportieren, die deutlich billiger als diejenigen der Engländer waren. Nur dass die Deutschen statt bestem Gussstahl das billigere Gusseisen benutzten und um die "Fakes" echt wirken zu lassen, Herstellernamen einstanzten, die auf die Herkunft aus Sheffield deuteten, die damalige Hochburg qualitativ hochwertiger Schneidewerkzeuge.

Made in Germany wertet sich auf

Als im März 1883 elf Staaten die "Pariser Verbandsübereinkunft" trafen, ein Abkommen zum Patent- und Markenrecht, nahm Deutschland bewusst weder an der Zusammenkunft teil, geschweige denn, dass es zu den Unterzeichnern gehörte. Im August 1887 kam es in England deshalb zu einer Neuauflage des britischen Handelsmarkengesetzes, dem Merchandise Marks Act, das die Angabe des Herkunftslandes auf allen importierten Waren verlangte. Danach stand "Made in Germany" eine Zeitlang für Billigprodukte und Gefälschtes, solange bis die deutschen Techniker, Wissenschaftler, Unternehmer gelernt hatten, wie man selbst Qualitätsprodukte konzipierte und anfertigte. In dem Zusammenhang müssen wir nur an das erste optisch berechnete Mikroskop von Abbe/Zeiss aus dem Jahr 1873 denken. Schon 1879 exportierte Zeiss die Hälfte seiner Mikroskope und gründete ausländische Niederlassungen in Russland, England und Österreich.

Darüber hinaus blieben die deutschen Waren für eine Weile preiswerter und die Lieferkonditionen attraktiver als die der englischen Konkurrenz, sodass aus der Deklassierung "Made in Germany" langsam etwas Positives und schließlich sogar ein Gütesiegel wurde.

In Deutschland sorgten neue Universalbanken unterdessen für das Kapital der aufsteigenden Unternehmen und die Zahl der Unternehmen mit über eintausend Beschäftigten verdreifachte sich. 1914, vor Beginn des Ersten Weltkriegs, hatte das ehedem zersplitterte Staatengebilde, das bis Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts rückständig, mehrheitlich agrarisch und zum großen Teil regelrecht industriefeindlich war, sich zu einem der führenden Exportländer der Welt entwickelt.

Made in Germany - ein Mythos

Dass das seit der Reichsgründung manifest gewordene neue und übersteigerte deutsche Nationalgefühl, gepaart mit nahezu rauschhafter Selbstüberschätzung, die deutsche Erfolgsgeschichte 1914 und während des Nationalsozialismus zweimal abrupt zum Ende brachte, ist eine andere Geschichte.

Seltsamerweise hat sich das Gütesiegel Made in Germany durch zwei Weltkriege und deren Folgen gerettet und in der Zeit des sogenannten deutschen Wirtschaftswunders zum zweiten Mal Hochkonjunktur gehabt. Unternehmen wie Siemens, Bosch, Zeiss, Bayer, Daimler, Volkswagen haben von diesem Markenzeichen profitiert und mit ihm gleichzeitig ein Maß an Qualität versprochen, das, während bereits in Osteuropa, Asien oder Lateinamerika produziert wurde, noch immer den Mythos des fleißigen, soliden deutschen Ingenieurwesens suggeriert.

Unser Gastautor: Olaf Plötner ist Fakultätsmitglied der European School of Management and Technology (ESMT) und Geschäftsführer der ESMT-Abteilung Kundenorientierte Lösungen. Er ist Gastprofessor an der Darden Graduate School of Business an der Universität Virginia, USA, und regelmäßiger Gastdozent an der Freien Universität Berlin und an der ESCP (l’Ecole Superieure de Commerce de Paris).

Redaktionelle Bearbeitung: Jutta Wasserrab