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Das "Weiße Meer" in Thessaloniki

Spiros Moskovou8. Juni 2015

Das Mittelmeer trennt und verbindet seit Jahrhunderten Völker und Kulturen. Wie soll man mit dem gemeinsamen Erbe umgehen? Auf einem Literaturfestival in Thessaloniki suchten internationale Autoren neue Ansätze.

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Thessaloniki Uferpromenade
Bild: picture-alliance/Bildagentur-online/Schickert

Was können schon die mahnenden Stimmen von Schriftstellern richten angesichts unzähliger versinkender Seelenverkäufer vor den Gestaden Europas? Literatur könne keine Lösungen zum akuten Migrationsproblem liefern, da "für sie Partikularität und Singularität gut sind, für die Gesellschaft aber schlecht", meint der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos. "Die Literatur kann Mitgefühl zeigen, die Gesellschaft nicht. Sie muss wieder das verblassende Wort 'Solidarität' entdecken."

Und die Politik? Sie sei zu oft in der Opportunität verfangen. Fioretos erinnert an das Projekt "Eurafrika", das im 19. und 20. Jahrhundert – im krassen Unterschied zu den heutigen politischen Prioritäten – die wechselseitigen Ergänzungen und die gegenseitige Abhängigkeit beider Kontinente beschwor, obwohl es letztendlich natürlich nur die Fortführung kolonialer Machtstrukturen in Afrika rechtfertigen sollte.

Unter dem Motto "Das Weiße Meer" – so heißt das Mittelmeer auf Arabisch – kamen Autoren aus verschiedenen Mittelmeerländern in Thessaloniki zusammen, um die Perspektive des anderen einzunehmen, den jahrhundertealten Kulturraum des Mittelmeers zu erforschen und den versunkenen Kosmopolitismus der Küstenregionen Südeuropas und Nordafrikas wieder zu beschwören. In einer Zeit, wo Migrationsströme und unzählige Tragödien das Meer als Trennlinie in den Vordergrund rücken, sinnierten die Literaten darüber, wie das Meer wieder als Brücke der Völker dienen kann. Vom 3. bis 5. Juni fand das Literaturfestival an der griechischen Küstenmetropole statt, bei dem Schriftsteller versuchten, neue Ansätze für ein kosmopolitisches Europa zu formulieren. Seit 2012 wird das Treffen vom Literarischen Colloquium Berlin und der Allianz Kulturstiftung organisiert.

Treffen europäischer Autoren in Thessaloniki: Plakat
Einladung zum Literatentreffen

Reflektionen aus der Vergangenheit

Angesichts der oft heftigen Reaktionen in der griechischen Öffentlichkeit auf eine "Überflutung" durch Migranten präsentierte der griechische Erzähler Thanassis Valtinos eine Collage von Dokumenten über die griechischen Auswanderungswellen in den letzten zwei Jahrhunderten und vermischte sie mit Daten und Fakten über die heutigen Einwanderungswelle: Volkslieder aus dem 19. Jahrhundert, die das Schicksal der griechischen Migranten in Amerika beweinen, rührende Briefe einfacher Menschen an das internationale Komitee für europäische Auswanderung (ICEM) aus den 1960er Jahren, die um die ersehnte Reiseerlaubnis nach Deutschland bitten, Reportagen über anonyme Auswanderer aus Asien, deren Leichen heute an griechischen Küsten entdeckt werden. Valtinos' unausgesprochenes Fazit: Not und Auswanderung ist ein gemeinsames Los.

Ob die tunesische Exilautorin Najet Adouani aus ihrer Sammlung "Meerwüste" auf Arabisch rezitierte, oder ob ihre griechische Kollegin Phoebe Gianissi Verse zum Schicksal von Migranten sagte: "Wie kann jemand einen Namen vorspielen, wenn er schon davor ein Nobody war?" Das poetische Stimmenwirrwarr in Thessaloniki hatte eine beachtliche suggestive Kraft und beschwor indirekt die verstummte Vielstimmigkeit der Stadt selbst. Thessaloniki war nämlich nicht immer "rein" griechisch. Die Griechen stellten um 1920 sogar die Minderheit der Bevölkerung. Die größte Gemeinde war damals die jüdische, die zweitgrößte die türkische. Die Türken verließen die Stadt nach 1923, eine Folge des Vertrags von Lausanne im Rahmen des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei. Die etwa 50.000 sephardischen Juden wurden während der deutschen Besatzung deportiert und ermordet. Ein bescheidenes Mahnmal im heutigen Thessaloniki, erst 1997 errichtet, erinnert an ihr Schicksal.

Offenbar legte die Stadt jahrzehntelang keinen Wert darauf, an ihre frühere kulturelle Vielseitigkeit zu erinnern. Ihre Universität wurde auf den Ruinen des alten jüdischen Friedhofs gebaut, während eine alte Moschee mitten in Thessaloniki als Pornokino namens Alkazar "umfunktioniert" wurde.

Griechischer Schriftsteller Thanassis Valtinos
Thanassis Valtinos thematisierte die Solidarität der VölkerBild: Archiv Lambrakis Press

Die Ehrung einer syrischen Heldin

Heutzutage suchen viele griechische arbeitslose Jungakademiker die Flucht aus der Stadt. Sie erhoffen sich woanders einen sicheren Job und bessere Chancen, meistens in einem anderen europäischen Land. Auch die Literaturveranstaltung nahm sich dieser Frage an: Lohnt es sich, im krisengeplagten Griechenland zu bleiben, oder ist es besser zu gehen? Der Schriftstellernachwuchs blieb die Antwort schuldig, stellte aber klar, dass man als Schriftsteller sowieso der andere, der "Migrant" in der eigenen Gesellschaft sei.

"Die jungen griechischen Autoren verfallen oft in Selbstmitleid", konstatierte Christina Weiss, Vorsitzende des Kuratoriums der Allianz Kulturstiftung und frühere Kulturministerin, gegenüber der DW. "Man diskutiert hier das Problem der Flüchtlinge intensiver als anderswo, man dreht sich aber im Kreis. Man fühlt sich von allen im Stich gelassen. Aber man entwickelt komischerweise als junger Mensch kaum die Idee der Solidarität mit der Gemeinschaft, der Mitverantwortung für die demokratische Gesellschaft. Aber vielleicht ist das ein europäisches Problem."

Ehemalige Kultur-Staatsministerin Christina Weiss
Das Literaturfest wurde u.a. von Christina Weiss kuratiertBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Die Idee einer solidarischen Gemeinschaft zeichnete sich allerdings ansatzweise in einem Dokument der Valtinos-Collage ab. Darin geht es um eine Ende 2014 vorgenommene Ehrung in der ehrwürdigen Akademie der Künste und Wissenschaften zu Athen: "In Anerkennung ihres heldenhaften Mutes und ihrer Aufopferung wird der mit 3.000 Euro dotierte Preis der Akademie der 19-jährigen Doaa Al Zamel aus Syrien verliehen."

Als das Schiff, auf dem die junge Frau zusammen mit weiteren 490 Flüchtlingen zusammengepfercht war, nordwestlich von Kreta versenkt wurde, ergriff sie zwei Säuglinge. Deren Mütter waren ertrunken, doch Doaa hielt sie vier Tage lang über Wasser, bis man sie endlich auffand und nach Heraklion auf Kreta brachte.