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Lissabon: Vom Exil zur Heimat

Helena Ferro de Gouveia31. Dezember 2012

Die Stadt am Tejo war für jüdische Flüchtlinge und politisch Verfolgte ein Hafen der Hoffnung und ein Wartesaal für die Weiterreise in die USA oder anderswohin. Einige wenige sind geblieben. Ruth Arons zum Beispiel.

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Historisches Bild von Ruth und Ellen Arons (Foto: privat)
Bild: privat

Das kleine Schwarzweißfoto in ihrer Hand stammt aus dem Jahr 1935. Es zeigt die dreizehnjährige Ruth Arons und ihre zehnjährige Schwester Ellen auf dem Rücksitz eines Cabrios, auf der Fahrt ins unbekannte Portugal. "Als das Auto losfuhr, war ich erleichtert und aufgeregt zugleich", sagt die lebhafte 90-jährige Dame mit dem strahlend weißen Haar heute. Wir treffen uns in Ruths Wohnung in einem Hochhaus im eleganten Lissabonner Stadtteil Amoreiras. Die Erinnerungen gehen beim Gespräch kreuz und quer.

Ruth Arons spricht ein makelloses, bildreiches Portugiesisch und gelegentlich antwortet sie auch auf Deutsch, das sie nicht verlernt hat. In ihrem Wohnzimmer steht ein Schrank voller Bücher. Deutsche Klassiker sind hier zu sehen, ein deutsches Brockhaus-Lexikon, Bücher über Philosophie und Politik - und das Kochbuch ihrer Großmutter. Dieses Buch war schon mit den Möbeln und Habseligkeiten der Familie in Lissabon angekommen, bevor auch die Großmutter selbst – nach der Reichspogromnacht im November 1938 - aus Deutschland ausreisen konnte. Ruth Arons spürt noch heute den Duft und den Geschmack der Speisen, die ihre Oma ihr vor fast achtzig Jahren gekocht hat.

Froh, Deutschland verlassen zu können

Die 90-Jährige entsinnt sich genau. Adolf Hitler war gerade zwei Monate Reichskanzler, als am 1. April 1933 in ganz Deutschland in einer propagandistisch aufgeladenen Aktion jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien boykottiert wurden. "Mein Vater Albert war Rechtsanwalt und sofort betroffen: Er bekam Berufsverbot. Die Atmosphäre damals war furchtbar angespannt." Ruth war elf Jahre alt, sie verstand nicht, was das alles bedeutete, aber sie empfand, wie sie sagt, ein dumpfes Unbehagen, ein Gefühl der Bedrohung. Auch in ihrem kindlichen Umfeld änderten sich die Dinge: "Wir besuchten damals ein öffentliches Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Unsere Eltern nahmen uns wegen der zunehmenden Diskriminierung dort weg und brachten uns zu einer Klosterschule. Die Katholiken erschienen uns freundlicher. Aber wir täuschten uns. Den nichtjüdischen Mädchen wurde von zu Hause auch dort der Kontakt mit den jüdischen Mitschülerinnen verboten. Ich war schließlich sehr glücklich, als ich Deutschland verließ", erinnert sich Ruth Arons.

Ruth Arons liest ein Buch (Foto: Paulo Nuno Vicente)
Ruth Arons heuteBild: Paulo Nuno Vicente

Ihr Vater ahnte schon früh, wohin die Entwicklung gehen würde, er hatte Hitlers Propagandaschrift "Mein Kampf" gelesen und sehr ernst genommen. Er entschloss sich, zusammen mit Frau und Kindern Deutschland zu verlassen, solange das noch möglich war. Die Familie nahm nun Abschied von allem, was ihr lieb und teuer gewesen war. Von den Hoffnungen und Träumen eines ganzen Lebens. Im Cabrio fahren die Arons bis nach Lissabon, eine Fahrt von dreitausend Kilometern, die für die Schwestern in der Schweiz begann: Hier verbrachten sie ihre Weihnachtsferien, und erst hier sprachen die Eltern davon, dass die Familie nicht nach Deutschland zurückkehren würde. Ruth Arons erinnert sich an ein großes Gefühl der Erleichterung. Überhaupt war die Reise für sie eher ein Abenteuer: Nach Paris ging es zunächst, auf Verwandtenbesuch, und erst dann weiter Richtung Süden.

Torre de Belém in Lissabon (Foto: DW/ Helena Ferro de Gouveia)
Lissabon - im Zweiten Weltkrieg Zufluchtsort und Tor zur Freiheit für Flüchtlinge aus ganz EuropaBild: Helena Ferro de Gouveia

Leben in der Freiheitsallee

Die Stadt am Tejo ist damals eine beschauliche südliche Metropole, erst 600 Flüchtlinge leben hier und hoffen auf ein Visum zur Weiterreise. Die große Fluchtwelle mit zehntausenden Verfolgten wird vier Jahre später, nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen, ankommen. Die Arons wohnen zunächst - symbolträchtig - in einer Pension in der Avenida da Liberdade, der Freiheitsallee: "Wir wussten gar nichts über Portugal, kannten lediglich Portwein, Kork und Öl-Sardinen, weiter nichts. Natürlich konnten wir auch kein Wort Portugiesisch."

Doch das friedliche, Licht durchflutete, von Musik durchdrungene Lissabon empfing die Flüchtlinge aus Deutschland freundlich. Die Portugiesen waren hilfsbereit, bürokratische Hindernisse gab es nicht. Ruth und ihre Schwester Ellen besuchten die Französische Schule, das erleichterte das Einleben, denn schon in Berlin hatten sie Französisch gelernt. Ihre Mitschülerinnen, von denen sie die Landessprache ablauschte, waren nett, erinnert sich Ruth Arons. Dass gleichaltrige Kinder in Deutschland verfolgt und diskriminiert werden, konnten sie sich nicht vorstellen.

Ein trauriges Paradies

Wenige Jahre später ist Lissabon voll von jüdischen Flüchtlingen und politisch Verfolgten – darunter viele Künstler, Musiker, Schriftsteller und Intellektuelle. Das Stadtbild wandelt sich: Lissabon wird eine brodelnde Metropole voller fremder Sprachen und Kulturen, eine Stadt, in der sich Wege kreuzen, Schicksale entscheiden, wo Flüchtlinge, Spione, politische Polizei aufeinander treffen - in der Pastelaria Suiça oder im Café Nicola, der "Bar Famous" oder draußen im Hotel "Palácio Estoril". Fremde Traditionen und Gewohnheiten nisten sich in der Stadt ein. Ruth Arons erinnert sich: "Lissabon war ja wie ein Dorf und plötzlich kamen alle diese Flüchtlinge, saßen auf der Esplanade bei Kaffee und Sahnetörtchen, Frauen waren alleine in Cafés und rauchten. Das alles war für die Einheimischen ein ungewohnter Anblick."

Café Nicola in Lissabon (Foto: DW/ Helena Ferro de Gouveia)
Café Nicola in LissabonBild: Helena Ferro de Gouveia

Wie die "Berliner" nach Portugal kamen

Auch die Speisekarte des Landes reicherte sich mit Ungewohntem an. Deutsches Gebäck wie die "Berliner", die gefüllten Krapfen, zum Beispiel machten am Tejo Karriere. Ruth erzählt, dass eine jüdische Flüchtlingsfrau sich 1937 mit dem Verkauf selbst gebackener "Berliner" etwas Geld verdiente. Bald wurden aus "Berlinern" die "Bolas de Berlim", wenig später gab es das populäre Gebäck auch in den Cafés in Estoril und Lissabon. Heute sind die "Bolas" nicht mehr aus einer portugiesischen Kuchentheke wegzudenken. Ruth isst die "fabelhaften Bällchen" noch immer gern.

So unterhaltsam dies alles klingt: Das Leben der meisten Flüchtlinge in Lissabon und Umgebung war ab 1940 freilich alles andere als glamourös. Der Kampf um das bloße Überleben verschlang alle Kräfte. Unterkünfte und Lebensunterhalt mussten organisiert werden. Portugal war für die meisten Flüchtlinge nur eine Zwischenstation, eine Art Wartesaal, denn die Mehrheit der hier Gestrandeten wollte weiter nach Übersee, suchte verzweifelt nach Schiffspassagen, benötigte Tickets und Reisepapiere. Die Jüdische Gemeinde half und auch das Joint Distribution Committee – die Ressourcen reichten häufig nicht aus.

Blick auf Lissabon (Foto: DW/ Helena Ferro de Gouveia)
Neue Heimat LissabonBild: DW/H. Ferro de Gouveia

Von einer Diktatur in die andere

Ab 1942 scheint mit den Erfolgen der deutschen Wehrmacht der Krieg plötzlich näher zu rücken: "Von überall kamen entmutigende Informationen," sagt Ruth. Das Radio ist rund um die Uhr in Betrieb. Die Nachrichten haben plötzlich eine existentielle Bedeutung, es ist die Urangst der Flüchtlinge, den Moment des Aufbruchs zu verpassen, von der Militärmaschine der Nazis überrollt oder ein Opfer der auch in Portugal operierenden Gestapo zu werden. Von den tatsächlichen Vorgängen in Nazi-Deutschland und den besetzten Ländern Europas wissen die Arons wenig, Auschwitz und Dachau, die unvorstellbaren Verbrechen an den europäischen Juden, sind Themen, die sie erst später erschüttern und entsetzen werden. Als Ruth davon hört, steht für sie fest: Nach Deutschland wird sie nicht zurückkehren. Und noch heute fragt sie sich manchmal: "Wo war Gott, als all das Fürchterliche geschah?"

Ruth wird Studentin an der Universität in Lissabon, nach dem Krieg heiratet sie, bekommt die portugiesische Staatsbürgerschaft, engagiert sich im Widerstand gegen das Regime von Antonio de Oliveira Salazar, dem konservativ-autoritären Diktator, der im Zweiten Weltkrieg eine ausgeklügelte Neutralitätspolitik verfolgte, nie ganz auf Seiten der Alliierten stand, aber auch kein Parteigänger der deutschen Nationalsozialisten war. Die jüdischen Flüchtlinge wollte er indes nicht im Land haben – eine Anweisung, gegen die Konsul Aristides Sousa Mendes mit seiner Rettungsaktion für 30.000 Verfolgte bewusst verstieß.

Aufbruch zur Demokratie

1973 ist Portugal die älteste Diktatur Westeuropas. Und plötzlich verknüpfen sich wieder die Fäden der Geschichte. Ruth Arons' Sohn, Alberto Arons de Carvalho, gründet zusammen mit dem Exil-Politiker und späteren Ministerpräsidenten Mário Soares die Sozialistische Partei Portugals: ausgerechnet in dem Provinzstädtchen Bad Münstereifel in Deutschland. Und mit Unterstützung deutscher Sozialdemokraten, an ihrer Spitze der damalige Bundeskanzler Willy Brandt. Ein Jahr später bricht mit der Nelkenrevolution die Demokratisierung Portugals an. Ruth Arons ist auf Seiten der Revolutionäre und Demokraten. Und bald hat auch sie ein Amt: Sie wird erste gewählte Bürgermeisterin von São Mamede, einem Bezirk von Lissabon. Ob sie damit auch das Erbe ihres Großonkels Leo Arons antrat, der im Deutschland der Kaiserzeit Wissenschaftler war und zugleich Sozialdemokrat und ein Förderer der Gewerkschaftsbewegung? Die 90-Jährige lächelt bescheiden. So weit würde sie nicht gehen. Aber wichtig ist ihr dieser Teil ihrer Familiengeschichte doch.

Alberto Arons de Carvalho (Foto: Paulo Nuno Vicente)
Mit deutschen Wurzeln: Alberto Arons de CarvalhoBild: Paulo Nuno Vicente

Heute blickt sie mit gemischten Gefühlen auf Deutschland, das ihr fremd geworden ist. Sie hat längst Wurzeln geschlagen: "Mein Land ist jetzt Portugal. Ich liebe Lissabon und lebe gerne hier. Auf dieser Straße, wo ich seit 50 Jahre wohne, kenne ich alle Leute." Deutschland, das ist für sie Teil einer Vergangenheit, die weit zurück liegt.

Ruth Arons sitzt auf dem Sofa (Foto: DW/ Helena Ferro de Gouveia)
Eine vitale 90-Jährige: Ruth AronsBild: DW/H. Ferro de Gouveia