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Libyen am Abgrund

Kersten Knipp11. Juni 2015

In Berlin verhandelten Abgesandte der zerstrittenen libyschen Gruppierungen erstmals direkt miteinander. Langfristig sind die Diplomaten zum Erfolg verdammt. Denn scheitern sie, scheitert der libysche Staat.

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Libyen Kämpfe bei Sirte
Bild: Reuters/G. Tomasevic

Ein Tag, drei Orte. Am 10. Juni empfängt der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Berlin Vertreter der libyschen Konfliktparteien und drängt sie, dem von den UN vorgelegten Friedensplan zuzustimmen. In der westlibyschen Hafenstadt Tobruk erklärt fast zeitgleich ein Sprecher des gewählten Parlaments, dieses habe erhebliche Vorbehalte gegenüber dem Friedensplan. Und in der einige hundert Kilometer westlich gelegenen Stadt Sirte erklärt ein Sprecher der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS), diese hätte die Stadt "befreit" – in anderen Worten: unter ihre Kontrolle gebracht.

Es dürfte kein Zufall sein, dass die drei Ereignisse so dicht aufeinander folgen. Die Mitglieder des regulären, von islamistischen Kräften aus der Hauptstadt Tripolis vertriebenen Parlaments gaben den Diplomaten in Berlin zu verstehen, dass sie vor allem anderem auf einem bestehen: der demokratischen Ordnung des Landes. Für die Abgeordneten, die in freien und regulären Wahlen ins libysche Parlament gewählt wurden, ist jede Vereinbarung, die diese Ordnung nicht respektiert, unakzeptabel.

Genau daran krankt aus ihrer Sicht der von UN-Sonderbotschafter Bernardino León vorgelegte Friedensplan. Dieser sieht vor, dem Parlament einen aus 120 Mitgliedern bestehenden Staatsrat an die Seite zu stellen. Dieser setzt sich aus eben jenen Kräften zusammen, die die gewählten Parlamentarier vertrieben und sich an deren Stelle gesetzt hatten. "Der Vorschlag spiegelt nicht die Legitimität des gewählten Parlaments", erklärte ein Sprecher.

Die beiden libyschen Premierminister Chalif Al-Ghwell und Abdullah el-Thenni, 31.05.2015 (Foto: Anadolou Agency)
Konkurrenten: die beiden libyschen Premierminister Chalif Al-Ghwell und Abdullah el-Thenni.Bild: DW-Fotomontage/picture-alliance/AA/AP

Zahllose Binnenflüchtlinge

Den Dschihadisten des IS können solche Vorbehalte nur recht sein. Der Umstand, dass sich die beiden Parlamente nicht einigen können, spielt ihnen in die Hände. Im November hatten sie mit Derna die erste libysche Stadt unter ihre Kontrolle gebracht. Seitdem weiten sie ihr Machtgebiet systematisch aus. Durch Schreckenstaten wie die Enthauptung von 21 Kopten im Februar dieses Jahres erschüttern sie die Weltöffentlichkeit. Zugleich verbreiten sie in der Lokalbevölkerung Angst und Schrecken.

Die Kämpfe zwischen den verfeindeten Volksgruppen auf der einen Seite und dem Vorrücken des IS auf der anderen haben Land und Bevölkerung schwer zugesetzt. 400.000 der insgesamt sechseinhalb Millionen Libyer befinden sich nach UN-Angaben innerhalb der Landesgrenzen auf der Flucht. Bis zu zwei Millionen Menschen haben das Land verlassen. Sie halten sich vor allem in Ägypten und Tunesien auf. Auch wirtschaftlich bewegt sich das Land am Abgrund. So ist die Ölproduktion gegenüber den Fördermengen vor der Revolution des Jahres 2011 um 90 Prozent zurückgefallen.

Teilnehmer einer islamistischen Demonstration in Bengasi, 31.10.2014 (Foto: AP)
Teilnehmer einer islamistischen Demonstration in BengasiBild: picture-alliance/AP Photo/M. Hannon

Libyen als gescheiterter Staat

Aus Sicht des am Washington Institute for Near East Policy forschenden Politologen Andrew Engel ist Libyen bereits jetzt ein gescheiterter Staat. Das Land sei "das Somalia des östlichen Mittelmeers", zitiert ihn die Zeitung Al Araby al-Jadeed. Viele der Kriterien eines gescheiterten Staats seien erfüllt: Der Staat verfüge nicht mehr über das Gewaltmonopol, könne die Bevölkerung nicht mehr kontrollieren und stelle keine öffentlichen Güter mehr zur Verfügung. Libyen stehe kurz vor dem totalen Zusammenbruch.

Umso mehr mahnten in Berlin Außenminister Steinmeier und UN-Sondervermittler León zu einem zügigen Abschluss der Friedensgespräche. "Vielleicht ist es die letzte Chance, Libyen vor einem völligen Auseinanderbrechen zu bewahren", sagte Steinmeier. "Es ist jetzt an der Zeit, eine Vereinbarung zu schließen", ergänzte León. Einen fünften oder sechsten Vermittlungsvorschlag werde es nicht geben.

Die europäischen Länder haben erhebliches Interesse daran, Libyen vor dem Scheitern zu bewahren. Längst machen sich Schleuser- und Schlepperbanden die Schwäche des Staates zunutze. Da dieser weite Teile des Landes nicht mehr kontrolliert, lotsen sie immer mehr Flüchtlinge an die Küste, von wo diese nach Europa übersetzen. Auch der Waffenhandel blüht. In ihm wie auch im Schleusergeschäft mischen längst auch die Dschihadisten mit, die sich auf diese Weise finanzieren. Die Grenzen zwischen ihnen und nicht-ideologisch motivierten Kriminellen sind fließend.

"Krebsgeschwür IS"

Politisch habe die unübersichtliche Lage zu einem Klima von Verdächtigung und Misstrauen geführt, heißt es in einer Studie der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik. Politiker würden von ihren Gegner gezielt als Dschihadisten verleumdet. Umgekehrt würden Extremisten als harmlose religiöse Würdenträger dargestellt. "Fest steht, dass dschihadistische Strömungen in mehreren libyschen Küstenstädten sozial tief verwurzelt sind. Gesichert ist auch, dass libysche Dschihadisten eine Schlüsselrolle im Austausch zwischen dem IS, nordafrikanischen und saharischen Gruppen spielen."

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und UN-Vermittler Bernardino Leon, 10.06.2015 (Foto: AFP / Getty Images)
Drängen auf rasche Einigung: der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und UN-Vermittler Bernardino LeónBild: Getty Images/Afp/O. Andersen

Noch hat der drohende Kollaps die verantwortlichen Politiker nicht dazu bringen können, sich zu einigen. Immerhin erzielten sie bislang in vier Fünfteln der strittigen Punkte eine Übereinstimmung. In Berlin versuchte man die Konfliktparteien dazu zu bringen, sich auch in den übrigen Punkten zu einigen, und zwar möglichst bald. "Mit jedem Tag, den der Konflikt anhält, wächst das Krebsgeschwür ISIS", sagte Bundesaußenminister Steinmeier.