1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Letzte Chance vor dem Kessel

Fank Hofmann, Kiew10. Februar 2015

Der Kampf um die Kleinstadt Debalzewo beeinflusst die Gespräche in Minsk - zum Vorteil der Rebellen. Unterdessen verliert die ukrainische Bevölkerung die Geduld mit ihrer Regierung. Aus Kiew berichtet Frank Hofmann.

https://p.dw.com/p/1EZIM
Ukrainische Soldaten bedienen einen Raketenwerfer (Foto: REUTERS/Alexei Chernyshev)
Bild: Reuters/Alexei Chernyshev

Diplomatie im Krieg kommt nicht ohne die militärische Option aus, heißt es in der Regel. Sollte es in Minsk an diesem Mittwoch tatsächlich zu Verhandlungen kommen zwischen der Ukraine und Russland - vermittelt von Deutschland und Frankreich - dann finden sie unter dem Druck des Schlachtfeldes statt. In der ostukrainischen Kleinstadt Debalzewo kämpft die ukrainische Armee mit wahrscheinlich 5000 Soldaten gegen Rebellenangriffe von drei Seiten. Ob die den Kessel schon zuziehen, das heißt die Hauptverbindungsstraße abschneiden konnten, ist allem Anschein nach Interpretationsfrage. Die ukrainische Armee sagt nein, die Rebellen ja. Entlang der Route soll es nach ungeprüften Medienberichten Panzerkämpfe zwischen beiden Seiten geben. Eine Straße aber, die nicht mehr genutzt werden kann - damit wäre der Kessel von Debalzewo wohl tatsächlich geschlossen. Seit Dienstag - und damit pünktlich zu Beginn der Verhandlungen in Minsk. Es droht eine humanitäre Katastrophe in der Ukraine, die alles Bisherige übertrifft.

Unabhängige Beobachter können sich derzeit keinen Überblick verschaffen. Ein russischer und ein ukrainischer General in der Region, die das im September geschlossene Minsker Waffenstillstandsabkommen, überwachen berichten, dass noch immer "etwa 5000 Zivilisten in Debalzewo sind", sagte Michael Bociurkiw, der Sprecher der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Sonntag. Die Beobachtermission "konnte diese Zahl aber nicht überprüfen." Vergangenen Freitag schwiegen die Waffen für ein paar Stunden, um die leidenden Menschen in Sicherheit zu bringen, die zum Teil seit mehr als zwei Wochen in ihren Kellern ausgeharrt haben. 600 verließen Debalzewo in einem Konvoi in Richtung Westen, auf das Gebiet, das von der Kiewer Zentralregierung kontrolliert wird, nur 35 offenbar in Richtung der Rebellen.

Ukrainer auf der Flucht (Foto: REUTERS/Gleb Garanich)
Mit Sack und Pack - In Bussen werden die Bewohner in Sicherheit gebrachtBild: Reuters

Rechts und links des Fluchtwegs fallen Schüsse

Die Eskalationsspirale des Krieges in der Ostukraine dreht sich immer schneller. Am Dienstag startete die ukrainische Armee Entlastungsangriffe bei Mariupol, die Rebellen antworteten mit einer Rakete auf Kramatorsk, Sitz des ukrainischen Generalstabes - zehn Menschen wurden getötet. Noch Ende Januar konnte die Tanzlehrerin Iryna Maljaeva Debalzewo mit der Hilfe von Verwandten aus dem drei Autostunden entfernten Charkiw verlassen - im Privatauto. "Wir hatten Glück, sind am frühen Morgen gefahren, da wurde auf der Straße nicht geschossen", rechts und links der Hauptverbindungsstraße aber schon. Dort also, wo jetzt nach unbestätigten Berichten die Panzer kämpfen.

Heute lebt Maljaeva in einer Flüchtlingsunterkunft am Stadtrand von Charkiw. Auch die hat sie mit Unterstützung der Verwandten gefunden - nichts war organisiert. Fällt Debalzewo, droht Chaos. Die Stadtverwaltungen entlang der Frontlinie sind heillos überfordert. Hilfe kommt meist nur von Freiwilligen, die Krankenhäuser oder die Flüchtlinge direkt mit Medikamenten und mit Essen versorgen. Entsprechend unzufrieden sind die Helfer mit der vor zweieinhalb Monaten vereidigten Regierung.

Karte Grenzverlauf umkämpfte Gebiete in der Ostukraine
Bild: DW

Durchhalteparolen überall

Noch am Anfang der Woche behauptete der ukrainische Armeesprecher Andriy Lysenko, dass die ukrainische Armee in Debalzewo weiter versorgt werden könne, während die Rebellen behaupten, dass sie den Kessel geschlossen hätten. Durchhalteparolen gegenüber einer tief verunsicherten Bevölkerung. Ein mittlerweile bekanntes Vorgehen. Schon vergangene Woche verneinte der Sprecher, dass der Ort Vuhlehirsk südlich von Debalzewo von den Rebellen eingenommen worden war, bis unmissverständliche Fernsehbilder über die Kiewer TV-Schirme flimmerten - aus einem völlig zerstörten Ort mit völlig traumatisierten Zivilisten. Zur selben Zeit ließ sich ein hochrangiger Mitarbeiter der Präsidialverwaltung zu den Worten hinreißen, "berichten Sie doch endlich, dass wir von Russland angegriffen werden", und eben nicht allein von Rebellen. Die ukrainische Führung steht unter enormem Druck - von innen und durch die militärische Lage im Osten. Das schränkt die Verhandlungsmöglichkeiten der ukrainischen Delegation ein, die sich auf den Weg nach Minsk macht.

Ein Augenzeuge, der den von Rebellen eroberten Ort Vuhlehirsk bei Debalzewo diese Woche besucht hat, berichtet von selbstbewussten Rebellen auf dem Vormarsch. Er habe auch eine Flugabwehr russischer Bauart dort gesehen, daneben ein "Instruktor", der das Gerät auch bedienen kann - aus Russland. Das ist die Ausgangslage für den wichtigsten Verhandlungspartner am Tisch von Minsk: Den russischen Präsidenten Vladimir Putin. Die militärische Lage spielt allein ihm und den von Russland unterstützten Rebellen entgegen. Es ist eine bequeme Verhandlungsposition. Bequem - auf dem Rücken von mehr 5000 Zivilisten in Debalzewo.