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Urteil im Prozess um türkischen Geheimbund

Senada Sokollu11. August 2013

Im Prozess gegen den mutmaßlichen Geheimbund "Ergenekon" wurden von den 275 Angeklagten nur 21 freigesprochen, alle anderen müssen ins Gefängnis. Ihnen werden Putsch-Pläne vorgeworfen.

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Demonstranten laufen einem Gefängnisfahrzeug hinterher vor der Urteilsverkündung im Ergenekon-Prozess (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Es ist einer der umstrittensten Gerichtsprozesse der türkischen Justizgeschichte - der Ergenekon-Prozess. Für mehr als 60 Angeklagte wurde am Montag (05. August 2013) lebenslange Haft beantragt - unter anderem auch für den früheren Generalstabschef Ilker Basbug. 21 von 275 Angeklagten wurden freigesprochen, alle anderen sind zu Haftstrafen verurteilt worden. Dazu gehören ranghohe Ex-Militärs, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Politiker und Journalisten. Bei diesen Personen soll es sich um Mitglieder eines terroristischen Netzwerkes namens "Ergenekon" handeln, das wiederum Teil des sogenannten "Tiefen Staates" sein soll - ein Geheimbund, dessen Mitglieder Attentate und Mordanschläge auf die politische und kulturelle Elite des Landes ausgeheckt haben sollen. Ziel soll es gewesen sein, die Türkei in Chaos und Angst zu versetzen, damit die Armee mit einem Putsch wieder "für Ruhe und Ordnung sorgen kann".

Die türkischen Streitkräfte verstehen sich traditionell als Hüter der Nation und haben bereits drei Putsche durchgeführt. So sollen auch die Ergenekon-Mitglieder für mehrere Putschversuche gegen die islamisch geprägte Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verantwortlich gewesen sein. Mit dem Verfahren gegen Ergenekon sollte ein wichtiger Bestandteil des türkischen "Tiefen Staates" unschädlich gemacht werden.

Umstrittener Prozess

Die Argumentation seitens der Regierung, Ergenekon sei tatsächlich Teil des "Tiefen Staates", hat in der Türkei mittlerweile jedoch an Glaubwürdigkeit verloren. Viele glauben, dass Regierungskreise selbst hinter einigen der Morde stehen könnten, die Ergenekon zur Last gelegt werden.

Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas gegen Demonstranten vor (Foto: picture-alliance/dpa)
Bei Demonstrationen gegen den Prozess kam auch Tränengas zum EinsatzBild: picture-alliance/dpa

Der Prozess dauerte fast fünf Jahre und ist unter anderem wegen der teils sehr langen Untersuchungshaft für die Angeklagten und der undurchsichtigen Beweislage heftig umstritten. Kritiker werfen der Erdogan-Regierung vor, den Prozess für eine Hexenjagd auf politische Gegner benutzt zu haben. Erdogan selbst weist alle Vorwürfe zurück. "Wir zeigen eine feste und mutige Haltung, um unser Land und unsere Bürger von den Belästigungen durch Banden und Mafias zu befreien", so Erdogan am  01. August 2013 auf einer Pressekonferenz. Niemand stehe über dem Gesetz. "Wir sind dazu entschlossen, gegen illegale Banden zu kämpfen", zitiert die türkische Zeitung Hürriyet den türkischen Premier.

Diverse türkische Intellektuelle und Künstler hatten dagegen das Volk über Werbespots zu Großdemonstrationen vor dem Gerichtsgebäude in der unweit von Istanbul entfernten Stadt Silivri aufgerufen. Als "Helden, Väter und Mütter" wurden die Inhaftierten von ihnen bezeichnet.

Der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu warnte vor einer solchen Demonstration, sie sei illegal. Aufrufe zu Protesten sollten ignoriert werden.

Ist die Regierung Erdogans selbst Teil des "Tiefen Staates"?

Der investigative Journalist und Buchautor Nedim Sener gehört schon seit Jahren zu den Kritikern der Erdogan-Regierung. Im März 2011 wurde er gemeinsam mit anderen Regierungskritikern für rund ein Jahr inhaftiert. Der Vorwurf: Er soll Mitglied des Ergenekon-Netzwerkes sein. "Die Beweise gegen uns waren lediglich das Bücherschreiben und die Hilfe beim Bücherschreiben. Der echte Grund für meine Verhaftung waren meine Recherchen über den Mord an Hrant Dink sowie meine Bücher, die ich über ihn schrieb", erklärt Sener im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der armenische Journalist Hrant Dink war 2007 auf offener Straße erschossen worden. "Die Polizisten, die in dem Mordfall von Hrant Dink verantwortlich waren, sind auch diejenigen, die die Ermittlungen im Ergenekon-Prozess durchführen", sagt Sener.

Journalist Nedim Sener (Foto: picture alliance/TURKPIX)
Journalist Nedim Sener: "Ein politischer Prozess"Bild: picture alliance/TURKPIX

Neben dem Mord an dem Armenier Hrant Dink macht Sener auf den Mord an dem katholischen Priester Don Santoro aufmerksam, der 2006 in seiner Kirche erschossen wurde. "Die Täter, Aufpasser, Planer, die in diese Morde verwickelt waren, sind alle in staatlichen Behörden tätig. Sie sind auch zum Teil in der Politik", behauptet der Journalist. Der "Tiefe Staat" sei jetzt in anderen Händen. "Auch die Gewalt gegen die Protestierenden im Gezi-Park zeigt, wie dieser Staat noch denkt. Wenn man jemanden im Namen des Staates erschießt, passiert einem nichts", sagt Sener.

Kritiker reden von einem politisch motivierten  Prozess

Viele Fragen seien offen geblieben. Der Ergenekon-Fall werde nicht als Aufdeckung des "Tiefen Staates" und des Putschversuches in Erinnerung behalten werden. "Er wird als ein Fall in Erinnerung bleiben, in dem die Opposition vernichtet wurde", sagt der Journalist.

Auch Hüseyin Ersöz sieht den Ergenekon-Prozess als politisch motiviert an. Ersöz ist Anwalt des im Ergenekon-Prozess angeklagten Journalisten Tuncay Özkan und des Ex-Stabsoffiziers und Anwalts Mustafa Levent Göktas. "Beide wurden beschuldigt, Mitglieder einer Terrororganisation zu sein. Sie wurden mit einer lebenslänglichen Haftstrafe belegt mit der Begründung, die Regierung durch einen Putschversuch stürzen zu wollen", erklärt Ersöz im DW-Gespräch. Der Anwalt verweist auf die hohe Anzahl an digitalen Dokumenten, die als Beweismittel gegen die meisten Angeklagten verwendet würden. "Das sind Dokumente ohne Unterschrift, die man keinem zuordnen kann."

Hüseyin Ersöz, der Anwalt zweier Angeklagten im Ergenekon-Prozess ist (Foto: Hüseyin Ersöz)
Anwalt Hüseyin Ersöz: "Undurchsichtige Beweislage"Bild: privat

So sei es auch bei seinem Klienten. Mustafa Levent Göktas sei aufgrund einer CD angeklagt worden, die man in dessen Kanzlei gefunden habe. "Wieder ein digitales Dokument. Diese CD ist in Gewahrsam der Polizei kaputt gegangen. Göktas wird mit einer CD beschuldigt, die nicht mehr brauchbar ist, und er selbst behauptet, dass sie ihm nicht gehöre", sagt der Anwalt.

"Hexenjagd auf Oppositionelle"

Der Ergenekon-Prozess sei am Anfang öffentlich als Abrechnung mit dem "Tiefen Staat" bezeichnet worden, so Ersöz. "Doch das Verfahren hat uns gezeigt, dass die Regierung wie bei einer Hexenjagd Oppositionelle mit in das Verfahren hineingezogen hat. Es gibt einen 'Tiefen Staat', mit dem man abrechnen muss. Dieser 'Tiefe Staat' hat diese nicht aufgeklärten Morde begangen. Doch die Angeklagten haben mit diesen Morden nichts zu tun."