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Langes Warten auf die Rente

Tania Krämer, Jerusalem20. März 2014

Ehemalige Arbeiter in jüdischen Ghettos können einen Antrag auf eine deutsche Rente stellen. Doch das sogenannte Ghettorentengesetz ist problematisch und muss verbessert werden. Für viele kommt dies aber zu spät.

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Avri Steiner, wohnhaft in Israel, malt, um zu vergessen (Foto: DW/T.Krämer)
Bild: DW

Fast jeden Tag steht Avri Steiner in seinem Atelier. Die Regale sind vollgestopft mit Farbtöpfen und Pinseln. An den Regalen stehen noch unfertige Öl-Gemälde - darauf sind die apokalyptischen Motive aber schon zu erkennen. Das Malen hat sich der 83-jährige Israeli selbst beigebracht. Die Kunst ist so etwas wie eine Medizin, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit hoch kommt.

Avri Steiner war als Jugendlicher im Ghetto von Budapest. Als einziger seiner Familie hat er die Nazi-Zeit überlebt, auch, weil er im Ghetto gearbeitet hat. "Unsere Arbeit im Ghetto bestand darin, die Leichen aufzusammeln. Das waren vor allem die Leute, die in den Bombennächten getötet wurden", erzählt Avri Steiner. "Wir mussten die Leichen entweder verbrennen oder ordentlich aufeinanderstapeln. Dafür bekamen wir eine Art warmes Wasser, was sie Suppe nannten." Steiner war 13 Jahre alt, als 1944 deutsche Truppen in Ungarn einmarschierten und die jüdischen Bewohner von Budapest in ein Ghetto gesperrt wurden.



Gesetz ging an Realität vorbei

Heute, 70 Jahre später, lebt der Rentner in einer israelischen Kleinstadt nahe Tel Aviv. Mit einer niedrigen Rente vom israelischen Staat kommt Steiner gerade so über die Runden. "Ich habe durch den Krieg ja nie die Schule zu Ende gemacht oder eine richtige Ausbildung abgeschlossen", sagt er. Jahrelang lag er im Rechtsstreit mit deutschen Behörden, damit zumindest seine Arbeit im Ghetto anerkannt wird und er eine Rente von Deutschland erhält.

Avri Steiner, wohnhaft in Israel, malt, um zu vergessen (Foto: DW/T.Krämer)
Avri Steiner, wohnhaft in Israel, hat lange um seine Rente gekämpftBild: DW

Bereits 2002 hatte der Bundestag das sogenannte Ghettorentengesetz verabschiedet, um den Überlebenden der Ghettos eine Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Doch das Gesetz sieht vor, dass die Ghetto-Arbeiter fast die gleichen bürokratischen Prozesse durchlaufen wie jeder andere heutige Rentner in Deutschland. Vor allem Begriffe wie "Freiwilligkeit" und "Entgelt" sind in diesem Zusammenhang bei der Antragstellung problematisch. 2002 wurden daher bereits 90 Prozent der Anträge abgelehnt, nicht zuletzt auch, weil oft die schriftlichen Nachweise fehlen. "Selbstverständlich haben meine Mandaten keine Unterlagen, keine Zeugen und keine Papiere", erzählt Nils Johannsen, Fachanwalt für Sozialrecht in Berlin. "Die nationalsozialistische Verwaltung war ja nicht daran interessiert, den Menschen irgendwelche Belege für ihre Tätigkeit auszustellen, sondern sie wollten sie ausbeuten."

Renten für Ghetto-Arbeiter

Schwierige deutsche Bürokratie

Auch Avri Steiner kam mit der deutschen Bürokratie nicht zurecht. "Ich wusste nicht wie ich das machen soll. Ich hatte nicht das nötige Geld und auch nicht die mentale Kraft", erzählt Steiner und zuckt ratlos mit den Schultern. Deshalb hat er seinen Antrag auf eine deutsche Ghettorente über eine Beraterfirma in Tel Aviv stellen lassen, die auf Entschädigungen von Ghetto-Arbeitern spezialisiert ist - allerdings erfolgt dies nur gegen ein Honorar.

Die Beraterfirma prüft die Fälle und leitet sie an Fachanwälte in Deutschland weiter. Einige Verfahren können Jahre dauern, erzählt Beraterin Yaffa Golan und schaut auf die vollen Aktenschränke. Sie hat wenig Verständnis für die deutsche Bürokratie. "Unsere Klienten fragen sich wieso müssen sie so lange um ihre Rechte kämpfen müssen, wo sie doch alle in den Ghettos gearbeitet haben", sagt Yaffa Golan. "Warum wird schon wieder ausgewählt und aussortiert?"

Auch Avri Steiner hatte bereits 2003 seine Akte eingereicht. Erst 2010 aber wurde sein Antrag anerkannt. Erst nachdem 2009 das Bundessozialgericht entschieden hatte, dass im Prinzip alle einen Rentenanspruch haben, die im Ghetto gearbeitet haben, selbst wenn der Lohn nur ein Butterbrot war, wurde auch Steiners Antrag anerkannt. Allerdings konnten die Renten aufgrund von Verjährungsklauseln nur auf vier Jahre rückwirkend gezahlt, und nicht wie ursprünglich vorgesehen, seit 1997. Die Gesetzsprechung hatte eigentlich vorgesehen, dass bereits ab Juli 1997 Renten gezahlt werden müssen. Dieser Zeitpunkt ging auf eine frührere Entscheidung des Bundessozialgerichts im Fall des Ghetto Lodz zurück. Avri Steiner erhält nun 219,20 Euro von der deutschen Rentenkasse.



Die Probleme, die das Gesetz den Opfern des Nationalsozialismus bereitet, sind schon lange bekannt. Doch in Zukunft soll das Verfahren einfacher und gerechter werden, sagt Arbeitministerin Andrea Nahles von der SPD. Darauf habe man sich bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen in Jerusalem Ende Februar verständigt. "Es gab schon seit 2002 die Möglichkeit, Rentenanträge zu stellen, aber leider waren viele Sachen doch noch unklar. Das deutsche Rentenrecht hat den Bedürfnissen der Betroffenen oft nicht entsprochen", sagt Nahles der DW. "Wir versuchen es jetzt so zu vereinfachen, dass auch eine Mehrzahl der Leute ein Anrecht auf eine Rente rückwirkend von 1997 erhält." Noch im Sommer könnte dieses neues Gesetz verabschiedet werden.

Arbeitsministerin Andrea Nahles SPD 16.1.2014 (Foto: DPA)
Andrea Nahles will das Ghettorentengesetz vereinfachenBild: picture-alliance/dpa

Neues Gesetz soll Verfahren vereinfachen

Doch die Skepsis bleibt, vor allem bei Überlebenden wie Avri Steiner. "Im Durchschnitt sind wir Überlebenden heute um die 80 Jahre alt. Zum Glück weiß ich nicht, wie lange ich noch leben werde", sagt er. "Aber warum dauert das so lange, das macht doch keinen Sinn. Mit 50 oder 60 hat man das Leben noch vor sich, aber warum wartet man, bis die Leute über 80 sind?"

Von seiner Heimat Ungarn und seiner Familie ist Avri Steiner nur ein Schwarz-Weiß-Foto geblieben. Es zeigt ihn als Kind, Arm in Arm mit seinem Vater und seiner Mutter auf einem Familienausflug in Budapest. Sein Vater war bereits im Ghetto ums Leben gekommen. Seine Mutter hat er das letzte Mal am Bahnhof gesehen. Sie wurde im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet. Die Rente aus Deutschland könne seine verlorene Kindheit und die Familie nicht mehr zurückbringen, aber es sei eine Geste, sagt Steiner. Auch wenn sie für ihn sehr spät kommt.