1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Der Kampf gegen ISIS wird Jahre dauern"

Marco Müller12. Juni 2014

Nach dem Vorrücken der Terrorgruppe ISIS im Nordirak gerät die irakische Regierung immer mehr in Bedrängnis. Aber auch für Europa besteht ernste Gefahr, sagt Nahost-Experte Michael Lüders im Gespräch mit der DW.

https://p.dw.com/p/1CHNe
Porträt von Michael Lüders (Foto: DW)

Deutsche Welle: Die Terrororganisation ISIS konnte in den vergangenen Tagen im Irak größere Gebiete inklusive der Provinzhauptstadt Mossul erobern. Auch wenn es nun Meldungen gibt, der irakischen Armee sei es gelungen, die Stadt Tikrit zurückzuerobern - kann die irakische Armee ohne fremde Hilfe die Terrorgruppe ISIS zurückdrängen?

Michael Lüders: Nein, das kann die irakische Armee nicht. Sie ist zwar zahlenmäßig sehr stark - mehr als eine Million Bewaffnete zählt sie - aber sie ist undiszipliniert und unmotiviert, vor allem deswegen, weil die irakische Armee nach einem religiösen und ethnischen Proporz aufgestellt ist. Und sunnitische Soldaten sehen keinen Anlass, auf sunnitische Aufständische zu schießen.

Ist es aktuell noch möglich, eine Spaltung des Irak zu vermeiden - oder ist es dafür schon zu spät?

Der Irak ist schon ein zerfallener, gescheiterter Staat und diese Offensive der ISIS ist im Grunde genommen der Todesstoß für diesen zumindest noch auf dem Papier existierenden Zentralstaat. Die Regierung Maliki ist vollkommen überfordert. Sie ist hilflos. Die Amerikaner und vor allem auch die Türken werden die Entwicklung in den nächsten Tagen und Wochen beobachten. Es ist nicht auszuschließen, dass die Türkei Soldaten in die Kurdengebiete entsendet, um diese gegen mögliche Angriffe der ISIS zu verteidigen. Das wäre eine sehr paradoxe Situation, wenn ausgerechnet die türkische Armee, die normalerweise Kurden im Südosten der Türkei bekämpft, nun den Kurden im Nordirak militärisch beistehen würde.

Auch die USA haben angekündigt, die kurdischen Gebiete verteidigen zu wollen. Was im Einzelnen geschieht bleibt abzuwarten. Aber militärisch ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Die Region insgesamt ist erfasst vom Sog der ISIS, die es als erste islamisch-fundamentalistische Bewegung geschafft hat, sich über mehrere Grenzen hinweg zu etablieren. Vor allem im Irak, aber auch in Syrien, wo sie eine der gefährlichsten und ernstzunehmendsten Widersacher von Baschar-al-Assad ist. Und sie gewinnt zunehmend auch an Einfluss im Libanon.

Ein ISIS-Kämpfer steht vor einem brennenden Fahrzeug der irakischen Armee in Tikrit (Foto: AP Photo/Iraqi0Revolution via AP Video)
Ein ISIS-Kämpfer vor einem brennenden Fahrzeug der irakischen Armee in TikritBild: picture alliance/AP Photo

Sie haben gerade die USA angesprochen. War die gesamte politische und militärische Einflussnahme der USA in den letzten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, umsonst?

Zunächst einmal muss man sagen, dass die Amerikaner dieses Desaster wesentlich mit verantwortet haben. Das, was jetzt geschieht, ist die Quittung für die Fehler, die die Amerikaner begangen haben nach dem Sturz von Saddam Hussein. Sie haben eigentlich alles falsch gemacht was man überhaupt nur falsch machen kann - angefangen mit der Auflösung weiter Teile der irakischen Armee, mit der Auflösung der Baath-Partei, der Partei von Saddam Hussein. Dadurch sind hunderttausende Sunniten quasi über Nacht arbeitslos geworden und bildeten dann den Kern des Widerstandes gegen die amerikanische Besatzung. Und aus diesem Widerstand sind dann auch verschiedene Terrorbewegungen hervorgegangen, darunter eben auch ISIS.

Die Amerikaner bekommen jetzt ihre Quittung für eine völlig verfehlte Politik im Irak, im Nahen Osten insgesamt. Interventionen führen eben nicht zur Förderung demokratischer Strukturen oder zur Stärkung der jeweiligen Staaten, sondern zu deren Verfall. Das muss man leider feststellen.

Aber die Verantwortung liegt nicht bei den Amerikanern allein, sondern auch namentlich bei dieser Regierung Maliki. Maliki ist ein korrupter Politiker, der überhaupt nicht begriffen hat, welche Aufgaben auf den Irak zukommen, dass er eigentlich die Aufgabe hat, die verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppierungen zu einen. Er hat stattdessen deren Spaltung vorangetrieben. Und jetzt bekommt auch er die Quittung dafür und wird das wahrscheinlich politisch nur schwer überstehen.

Ein ISIS-Kämpfer steht neben einem Pickup auf dem ein Geschütz montiert ist (Foto: REUTERS/Stringer)
Provisorischer Checkpoint der ISIS vor MossulBild: Reuters

Besteht die Gefahr, dass nach Al-Kaida nun ISIS den Terror in die USA trägt?

Soweit sind wir noch nicht. Die ISIS ist eine Bewegung, die erstmal versuchen wird, ihre Machtposition im Irak und in Syrien zu konsolidieren. Und wenn die ISIS Terroranschläge verüben sollte - denn der Westen gilt aus Sicht der ISIS als Feind, und Israel sowieso - dann werden solche Terroranschläge sicherlich erst einmal die Europäer treffen. Ich sehe nicht, dass die ISIS logistisch in der Lage wäre, Anschläge in den USA durchzuführen - aber in Europa sehr wohl.

Der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel vor einigen Wochen ist von einem französischen Dschihadisten verübt worden. Ist das korrekt, dass er bei der ISIS in Syrien ausgebildet wurde - und er damit einen Vorgeschmack auf weitere Terroraktionen der ISIS in Europa gegeben haben könnte?

Es gibt Hinweise darauf, dass er zuvor auf Seiten der ISIS gekämpft hat. Auf jeden Fall ist das ein erstes Signal, dass Kämpfer, die sich bei den Dschihadisten in Syrien haben ausbilden lassen, anschließend nach Europa zurückkehren, um dort Terroranschläge zu verüben - nicht nur bei der ISIS. Es gibt ja auch noch die Nusra-Front, die mit der ISIS verfeindet ist, aber auch eine ähnliche Ideologie vertritt. Das ist die große Sorge der Sicherheitsbehörden in Europa, dass sich jetzt Kämpfer mit europäischen Pässen in Syrien ausbilden lassen, zurückkehren und dann hier Gewalt und Terror verbreiten.

Ist die ISIS die größte sicherheitspolitische Gefahr für Europa - oder könnte sie es zumindest werden?

Auf jeden Fall. Das ist eine sehr, sehr ernste Herausforderung für die Sicherheitsbehörden in Europa, was sich hier zusammenbraut an der türkischen Grenze. Und auch die Türkei hat allen Anlass zur Sorge. Die Türkei bezahlt ihrerseits einen hohen Preis für eine sehr kurzsichtige Politik. In Syrien hat man die ISIS unterstützt gegen Baschar al-Assad um das Regime zu stürzen. Im Irak nun ist die ISIS der Feind der Türkei, obwohl es quasi dasselbe Personal ist.

Gefördert wird dieser Terror natürlich auch von Saudi-Arabien, von den Golfstaaten, die die ISIS unterstützen mit Waffen und Geld in der Hoffnung, dass diese radikalen Kämpfer sich der Schiiten annehmen, sie bekämpfen. Saudi-Arabien sieht sich ja als Schutzmacht der Sunniten und den Iran als Erzfeind, ein schiitisches Land. Das ist sehr sehr kurzfristig gedacht. Auch die Saudis müssen damit rechnen, dass sich die Gewalt der ISIS wie auch die Gewalt von Al-Kaida irgendwann gegen sie selbst richtet.

Was soll Ihrer Meinung nach der Westen tun - auch zur eigenen Sicherheit? Sich militärisch engagieren?

Nein, auf keinen Fall. Militärische Maßnahmen bringen gar nichts. Das mag kurzfristig Erleichterung bringen, aber das Grundproblem ist nicht gelöst. Man muss einwirken auf die Kräfte in der Region - auf Saudi-Arabien, auf die Golfstaaten - die Unterstützung der ISIS bleiben zu lassen. Und natürlich bedarf es auch eines Durchbruchs in den Atomgesprächen mit dem Iran. Der Iran und die westlichen Staaten, die Europäer, haben denselben Feind: ISIS. Und es wäre wirklich tragisch, wenn nun die Atomgespräche scheitern würden. Dann würde der Iran keine Veranlassung sehen, ISIS zu bekämpfen, sondern würde das uns überlassen. Man kann sehen, dass in der Geopolitik des Nahen und Mittleren Ostens alles mit allem zusammenhängt und es ist sehr zu hoffen, dass die Amerikaner und die Iraner, und die Europäer mit den Iranern jetzt einen Durchbruch finden. Auf jeden Fall wird das Problem mit der ISIS und die Destabilität des Irak uns noch auf Monate und Jahre hinaus begleiten. Am Ende wird die ISIS schon geschlagen werden. Das Potenzial zumindest ist da. Aber es wird sehr sehr lange dauern und es sind dafür Preise zu entrichten.

Männer stehen auf der Ladefläche eines Militär-Lastwagens (Foto: REUTERS/Ahmed Saad)
Freiwillige schließen sich der irakischen Armee an, um gegen die ISIS zu kämpfenBild: Reuters

Michael Lüders ist Publizist, Politik- und Wirtschaftsberater, Roman- und Sachbuchautor. Der studierte Islamwissenschaftler und Politologe ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Orientstiftung.