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Kühler Empfang in der neuen Heimat

Nastassja Steudel8. Januar 2014

Etwa 13 Millionen Deutsche mussten zum Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Zuhause verlassen. Ab 1944 wurden sie aus den Ostprovinzen - heute Tschechien und Polen - vertrieben. Jetzt bekommen sie einen Gedenktag.

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Deutschen steigen 1946 bei ihrer Vertreibung aus Tschechien in Massen in Züge (Foto: CTK Vintage Photo/picture-alliance)
Bild: picture-alliance/CTK

70 Kilogramm pro Person. Mehr durften sie nicht mitnehmen, als sie Ende Mai 1946 abtransportiert wurden. Ein paar Monate zuvor hatte Liebhard Frankes Mutter Emma den Bescheid der tschechoslowakischen Behörden erhalten. Darin hatte man ihr mitgeteilt, dass sie und ihre Familie für die Aussiedlung aus Schwarzwasser, dem heutigen Černá Voda in Tschechien vorgesehen seien. 70 Kilogramm Hab und Gut als Rest des vorherigen Lebens. Liebhard Franke ist damals 14 Jahre alt. Noch heute mit 82 erinnert er sich gut an den Tag, an dem er mit seinen beiden jüngeren Geschwistern, der Mutter und der Großmutter abgeholt wurde. Bevor sie ihr Haus für immer verließen, spielte er noch mal auf dem Klavier.

Die Erinnerung lebendig halten

Millionen Deutschen erging es in den Wirren zum Ende des Zweiten Weltkrieges wie Familie Franke. Sie kamen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, dem Sudetenland und mussten ihre Heimat zurücklassen. Mit dem jetzt von CDU/CSU und SPD imneuen Koalitionsvertragvereinbarten Gedenktag soll an die Schicksale dieser Vertriebenen und die der Aussiedler erinnert werden. Auf Seite 113 heißt es in dem Papier: "Wir halten die mahnende Erinnerung an Flucht und Vertreibung durch einen Gedenktag lebendig." Für Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, ein längst überfälliger Akt. Es gehe schließlich um ein Thema, das alle betreffe, auch wenn man dabei über Regionen spreche, die heute nicht mehr zu Deutschland gehörten. Auf Twitter schrieb sie,die Vertreibung sei die epochalste Umwälzung für Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg gewesen. Seit 2002 hatte sich ihr Verband für einen eigenen Gedenktag eingesetzt. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen - sie ist eine der größten Nebentragödien des Zweiten Weltkriegs.

Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (Foto: Foto: Karlheinz Schindler/dpa)
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach: "Der Gedenktag ist längst überfällig"Bild: picture-alliance/dpa

Als Liebhard Franke 1932 in Schwarzwasser geboren wurde, gehörte das Örtchen im Sudetenland zur ehemaligen Tschechoslowakei. Ausschließlich Deutsch wurde dort damals gesprochen, erzählt der Rentner. Tschechen gab es nur wenige. Im September 1938 kam es mit dem Münchner Abkommen zur Anschließung des Gebiets an das Deutsche Reich. 1945, mit der Kapitulation Deutschlands, war für die "Verlierer" dort kein Platz mehr. Viele wurden, wie Familie Franke, Opfer staatlich angeordneter Vertreibungen. Politische Grundlage dafür bildeten die Potsdamer Beschlüsse, die die Siegermächte 1946 vereinbart hatten. Darin war festgehalten, dass die deutschen Bürger aus diesen Regionen nach Deutschland zwangsumgesiedelt werden sollten. Manche sprechen von einer ethnischen Säuberung.

Plötzlich acht Millionen Menschen mehr

In Viehwaggons eingepfercht wurden die Menschen abtransportiert und auf Westdeutschland und die sowjetische Besatzungszone verteilt. "Auch Internierungslager hat es gegeben", sagt Manfred Kittel, Direktor der Stiftung für Flucht, Vertreibung und Versöhnung. "Etliche landeten zunächst dort und mussten unter teilweise unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten." Besonders schlimm seien die Zustände in den jugoslawischen Lagern für die Donauschwaben gewesen, so Kittel. Liebhard Franke und seine Familie hatten Glück. Nach drei Tagen endete die Reise für sie in der süddeutschen Gemeinde Kürnbach, 50 Kilometer von Stuttgart entfernt. "Die Leute wurden einfach hineingestopft in die Gemeinden und die mussten dann zusehen, wie sie die unterbringen", erzählt Franke. Etwa acht Millionen Vertriebene wurden in Westdeutschland untergebracht, vier weitere Millionen in der späteren DDR.

Manfred Kittel (Foto: Stiftung für Flucht, Vertreibung und Versöhnung)
Stiftungsdirektor Manfred Kittel: "Die Vertreibung aus der Heimat war eine ethnische Säuberung"Bild: Stiftung für Flucht, Vertreibung und Versöhnung

Die "Neuen" galten als Eindringlinge

Die Einheimischen mussten Zimmer oder Wohnungsteile an die Neuankömmlinge abtreten. "Eine enorme Belastungs- und Zwangssituation ist das für alle Beteiligte gewesen", erinnert sich der 82-Jährige.

Ende 1946 kam dann sein Vater Otto aus der Gefangenschaft. Während des Krieges hatte er in einer deutschen Transporteinheit in Dänemark gedient. Als Fachmann der Steinindustrie fand Otto Franke schnell wieder eine Anstellung. Für das badische Bezirksamt half er beim Wiederaufbau von zerstörten Kirchen. Dadurch sei ihre Situation besser gewesen als die Anderer, gibt sein Sohn zu. Viele mussten die bittere Erfahrung machen, dass sie in der neuen Heimat als Eindringlinge betrachtet wurden.

Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit wären aber ohne die vielen Vertriebenen, die kräftig mit anpackten, nicht möglich gewesen, so Manfred Kittel von der Stiftung für Flucht, Vertreibung und Versöhnung.

Besucherinnen in sudetendeutscher Tracht auf dem 63. Sudetendeutscher Tag (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)
Besucher auf Sudetendeutschem Tag: Pflege von Traditionen aus der alten HeimatBild: picture-alliance/dpa

Über die Jahre ging vieles verloren - Dialekte, Bräuche und Traditionen. Ab etwa 1950 organisieren sich die Vertriebenen in sogenannten Landsmannschaften. "Diese Organisationen waren da, um gemeinsam an Kultur und Geschichte in der verlorenen Heimat zu erinnern, aber auch um politische Forderungen zu vertreten", erklärt der Historiker. Vielen habe diese Gemeinschaft auch bei der Verarbeitung ihres Verlustes geholfen.

Vor allem mit den Sozialdemokraten pflegten die Landsmannschaften zunächst ein enges Verhältnis. Ende der 1960er Jahre kam es dann zum Bruch, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) die Ostgrenze anerkannte. Damit zerbrach für viele, die noch an eine Rückkehr in die alte Heimat geglaubt hatten, jegliche Hoffnung. Fortan waren es vor allem die Unionsparteien CDU und CSU, mit denen die Landsmannschaften enge Kontakte pflegten. 20 gibt es deutschlandweit noch heute. Viele kämpfen gegen sinkende Mitgliederzahlen.

Neue Umgebung erfordert Anpassung

Für Liebhard Franke ist diese Entwicklung nicht überraschend. Bestimmte Dinge könne man eben nur am Leben erhalten, wenn sie in einer Volks- oder Dorfgemeinschaft geteilt würden. Es sei normal, dass es in einer neuen Umgebung dafür keine Resonanz mehr gebe. "Da muss man sich eben anpassen", sagt er.

Mit dem Gedenktag werden die Traditionen zwar nun auch nicht weiter gepflegt, zumindest aber wird an das Schicksal der Menschen erinnert. Jetzt wird erst mal darüber debattiert, an welchem Datum man diesen Tag begehen könnte. In der Diskussion sind unter anderem der "Tag der Heimat", der seit Jahrzehnten immer auf den ersten Sonntag im September fällt, und der Weltflüchtlingstag am 20. Juni.