1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kuschnir: "Wir sind keine Nationalisten"

Birgit Goertz5. März 2014

Czernowitz ist eine Stadt mit langer Tradition für das Nebeneinander von Sprachen und Kulturen. Spürt man hier die Sorge, die Ukraine würde nach rechts abdriften? Der Direktor des Jüdischen Museums dort glaubt das nicht.

https://p.dw.com/p/1BKo9
Mykola Kuschnir, Direktor des Jüdischen Museums in Czernowitz
Bild: DW/B. Görtz

DW: Czernowitz mit seinen 250.000 Einwohnern blickt auf ein reiches jüdisches Kulturerbe zurück. Auch heute leben rund 3.000 Bürger jüdischen Glaubens in der west-ukrainischen Stadt. Mykola Kuschnir, Sie sind Historiker und Direktor des Jüdischen Museums in Czernowitz. Zunächst: Wie ist bei Ihnen die aktuelle Lage?

Mykola Kuschnir: Die Lage ist nicht mehr so angspannt wie noch vor zwei, drei Tagen. In der Westukraine und in Czernowitz ist es ruhig. Hier gab und gibt es nur friedliche Demos, Solidaritätskundgebungen. Es gab auch zahlreiche Freiwillige, die sich zum Militär melden wollten. Aber bis jetzt war das nicht nötig. Denn alle setzen auf eine Beruhigung der Lage.

Wer hat denn das Sagen in der Stadt? Gab es Wechsel an der Spitze des Stadt- und der Gebietsverwaltung?

Momentan gibt es keinen Bürgermeister. Der Amtsinhaber gehörte zur Partei des gestürzten Präsidenten Janukowitsch und wurde vom Stadtrat abgesetzt. Es gibt nur einen stellvertretenden Bürgermeister. Er gehörte auch zur Partei der Regionen, aber er war schon aus der Partei ausgetreten, als die Übergriffe der Sicherheitskräfte auf studentische Demonstanten auf dem Maidan bekannt wurden. Der Gouverneur wird in der Ukraine vom Staatspräsidenten gewählt. Mit dem Sturz Janukowitschs sind auch die von ihm eingesetzten Gouverneure abgesetzt worden, so auch der von Czernowitz.

Ukraine Chernivtsi 25. Januar 2014 (Rechte: REUTERS)
Proteste in Czernowitz am 25. Januar 2014Bild: Reuters

In der neuen Ubergangsregierung in Kiew sind Vertreter der rechtsextremen Partei Svoboda mit dabei. Parteichef Oleksandr Sytsch ist Vize-Regierungschef, weitere Parteimitglieder bekleiden Ministerposten, zum Beispiel im Umweltressort. Inwiefern sind von Russland erhobene Vorwürfe, es gebe nationalistische und antisemitische Tendenzen in der Ukraine, zutreffend? Gibt es in Czernowitz Anzeichen dafür, dass die Ukraine nach rechts driftet?

Die Menschen sind enttäuscht von der Regierungszusammensetzung. Sie wollten neue Gesichter in der Regierung sehen. Aber man hat sofort gesehen, dass die alten Gesichter wieder mit im Spiel sind. Ich persönlich sehe die Beteiligung von Svoboda-Mitgliedern an der Regierung sehr kritisch. Das wirkt auf die Menschen im Osten der Ukraine sehr negativ. Und natürlich wird das von Russland propagandistisch ausgenutzt. Doch insgesamt halte ich die Befürchtungen für übertrieben. Denn in der politischen Verantwortung geben sich die Svoboda-Leute längst nicht mehr so radikal wie vor den letzten Parlamentswahlen, als sie mit extremen Parolen auf Stimmenfang gegangen waren. Aber fest steht: Ihre Beteiligung wirft ein schlechtes Licht auf die Ukraine.

Die Universität von Czernowitz (Rechte: DW)
Die Universität von CzernowitzBild: imago/INSADCO

Sie sind Historiker an der Universität Czernowitz und Direktor des Jüdischen Museums. Somit sind sie besonders sensibilisiert für antisemitische Strömungen. Können Sie dergleichen in Czernowitz ausmachen? Wie ist die Stimmung in der jüdischen Gemeinde?

Am Anfang waren viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde verängstigt. Wegen der unsicheren politischen Lage haben sie auch die Gedenkveranstaltungen zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar abgesagt - nicht wegen Furcht vor Übergriffen, sondern wegen der allgemeinen Unsicherheit. Doch es ist nach wie vor ruhig bei uns, es gibt keinerlei Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger oder Einrichtungen. Die jüdische Gemeinde hat nichts zu befürchten.

Im Jüdischen Museum in Czernowitz (Rechte: DW)
Im Jüdischen Museum in CzernowitzBild: DW/B. Görtz

Haben die Konflikte zwischen der Ukraine und Russland das Zusammenleben von ukrainischsprachigen Mitbürgern und russischsprachigen oder gar russischstämmigen Bürgern in der Stadt verändert?

Das ist in Czernowitz in keiner Weise der Fall. Die russischsprachigen und russischstämmigen Mitbürger drücken ebenso ihre Empörung über die Ereignisse auf der Krim aus. Sie sagen ganz offen: Wir brauchen hier keinen Schutz. Auch an der Universität gab es Kundgebungen von Studenten von der Krim, dem Osten der Ukraine und dem Donezk-Gebiet. Sie sagen: Wir haben hier nichts zu befürchten, wir brauchen keinen Schutz, wir brauchen kein russisches Militär.

Ich stelle mir vor ich wäre eine russischsprachige Ukrainerin und bewegte mich auf den Straßen von Czernowitz. Würde ich dann schief angeschaut?

Überhaupt nicht. Kein bißchen. Czernowitz ist eine Stadt, in der Toleranz eine lange Tradition hat.

Bis 1918 gehörte die Stadt zur Donaumonarchie (Rechte: DW)
Bis 1918 gehörte die Stadt zur DonaumonarchieBild: DW/B.Görtz

Es heißt immer, es gäbe diesen Riss zwischen den pro-russischen Ukrainern im Osten und den pro-europäischen Ukrainern im Westen. Stimmt dieses Bild? Ist es nicht auch so, dass sich die Ost-Ukrainer von den West-Ukrainern nicht wirklich als vollwertige Ukrainer anerkannt fühlen? Eine Art Komplex der Ost-Ukrainer gegenüber den West-Ukrainern?

Es gibt mehrere Komplexe in unserem Land, die noch nicht überwunden sind, kulturelle und psychologische Komplexe. Aber der Hauptgrund ist, dass die Leute manipuliert werden. Die Gegensätze werden geschürt und vertieft von den Politikern. Ein Teil der Bevölkerung wurde gegen den anderen ausgespielt, Ressentiments wurden geschürt. Russland tut sein übriges dazu. Faktisch weiß man viel zu wenig voneinander. Es es so, dass es kaum einen Austausch zwischen Ost- und Westukrainern gibt.

Was können denn Intellektuelle und Kulturschaffende tun, um die Gräben zu überwinden?

Die Kommunikationskanäle müssen unbedingt ausgebaut werden. Im Bereich der Bildung und der Universitäten zum Beispiel. Es muss viel mehr Studentenaustausch zwischen Ost und West geben. Auch die Professoren sollten am Austausch teilnehmen. Das muss staatlich unterstützt werden. Bis jetzt gibt es so etwas nicht, weil die Universitäten zentralistisch verwaltet wurden. Wir brauchen große Reformen auch auf dem Gebiet der Universitäten.