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Kommentar: Verteidigt die Verfassung!

Marcel Fürstenau22. Mai 2014

Das Grundgesetz ist 65 Jahre alt. Seine geistigen Väter und Mütter meinten es gut mit den Deutschen und Menschen aus aller Welt. Ideal und Wirklichkeit klaffen aber immer mehr auseinander, bedauert Marcel Fürstenau.

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Kommentarfoto Marcel Fürstenau Hauptstadtstudio
Bild: DW/S. Eichberg

Am 23. Mai 1949 verkündete der Vorläufer des Deutschen Bundestages, der Parlamentarische Rat, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Dieser Akt war, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Geburtsstunde des westdeutschen Teilstaats. Der war damals ebenso ein besiegtes und besetztes Land wie die wenige Monate später entstandene Deutsche Demokratische Republik (DDR), die ihrem Namen zum Trotz eine kommunistische Diktatur war. In der frühen Selbstwahrnehmung und faktisch waren die zwei Teilrepubliken Provisorien mit eingeschränkter Souveränität. Dieser Zustand, der über die Jahre zunehmend als normal empfunden wurde, endete erst mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.

In den 65 Jahren seiner Existenz wurde das Grundgesetz immer wieder geändert. Oft zum Nachteil einer offenen Gesellschaft und mit fragwürdigen Begründungen. Das war 1968 so, als die sogenannten Studenten-Unruhen der willkommene äußere Anlass waren, um mit Hilfe der lange geplanten sogenannten Notstandsgesetze zahlreiche Grundrechte einzuschränken. Betroffen waren unter anderem das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie das Recht auf Freizügigkeit.

Sündenfall Artikel 16

Ein weiterer Sündenfall war die 1993 beschlossene Abschaffung des ohne jede Einschränkung gewährten Asylrechts gemäß Artikel 16. Diese großzügige Regelung im Grundgesetz war eine von Dankbarkeit geprägte Entscheidung nach den grausamen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Terror-Regime. Millionen Menschen fanden damals Zuflucht und Rettung in vielen Ländern dieser Welt. Als sich die Verhältnisse umkehrten und immer mehr Flüchtlinge auf ein besseres Leben in Deutschland hofften, wurde Artikel 16 so verschärft, dass die Asylbewerber-Zahlen steil nach unten gingen und die Anerkennungsquote auf unter zwei Prozent sank.

Durch diesen beschämenden Erfolg fühlten sich jene in Politik und Bevölkerung bestätigt, die vielen Flüchtlingen rein wirtschaftliche Motive unterstellten. Auch wenn diese Vermutung im Einzelfall berechtigt sein mag, haften dieser Grundgesetz-Änderung zwei hässliche Makel an: Das kaum wiedervereinigte Deutschland entpuppte sich von Heute auf Morgen als hartherzig gegenüber Notleidenden aus aller Welt. Und schlimmer noch: Dieser Wandel vollzog sich in einer von Ausländerhass und Rassismus aufgeheizten Atmosphäre, als in Deutschland Unterkünfte für Asylbewerber brannten oder einzelne Bewohner sogar getötet wurden.

Statistisch wird das Grundgesetz jedes Jahr einmal geändert

Notstandsgesetze, Asylrecht und die jeweils damit verbundenen Eingriffe in das Grundgesetz sind lediglich zwei von über 60 Änderungen seit 1949. An diese erstaunlich hohe Zahl erinnerte dieser Tage der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier. Er tat es aber nicht im Rahmen einer Festveranstaltung anlässlich des Geburtstages der deutschen Verfassung, sondern eher beiläufig als Sachverständiger im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Seine Einlassungen hatten also einen aktuellen Bezug, der brisanter kaum sein könnte. Immerhin steht der Gebrauchswert eines elementaren Grundrechts auf dem Spiel: die Privatsphäre.

Im Kern geht es im vorliegenden Fall um das in Artikel 10 Grundgesetz garantierte Fernmeldegeheimnis. Das darf in drei Fällen ausdrücklich nur auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden: wenn die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährdet ist, der Bestand des Bundes oder der eines Landes. Davon kann - zum Glück - keine Rede sein. Da Artikel 10 also voll und ganz gilt, ist es die verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung und nachgeordneter Behörden wie Geheimdienste, ihre Bürger vor unrechtmäßiger Ausspähung zu schützen. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob die Spione für den eigenen Staat arbeiten, für profitorientierte Unternehmen oder fremde Mächte. Vor dem Grundgesetz sind alle gleich - das gilt für Rechte und Pflichten.

Die Bundesregierung ignoriert ihre Pflichten

Das Grundgesetz bietet folglich den idealen Schutz vor dem Bruch des Fernmeldegeheimnisses, womit im digitalen Zeitalter vor allem die mobile Kommunikation und das Surfen im Internet gemeint sind. Leider ist der Schutz aber nur theoretischer Natur, weil die Bundesregierung faktisch vor den bekannten Verächtern des Grundgesetzes kapituliert. Dabei wäre es ihre oberste Pflicht, mit allen legalen Mitteln rechts- und verfassungswidrige Handlungen zu bekämpfen.

Das Grundrecht auf Privatheit ist ein Menschenrecht, das per se höher zu bewerten ist als diplomatische Rücksichtnahme gegenüber dem wichtigsten Bündnispartner. Das sollte auch für die Vereinigten Staaten von Amerika eine Selbstverständlichkeit sein. Sie kamen 1945 als Befreier ins Land und ordneten zusammen mit den anderen demokratischen Siegermächten Großbritannien und Frankreich die Ausarbeitung des Grundgesetzes an. Das gilt es an seinem 65. Geburtstag mehr und leidenschaftlicher zu verteidigen denn je - gegen alle Gleichgültigen und Feinde im eigenen Land und auf der ganzen Welt.