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Kommentar: Orientierungslos in der Schickimicki-Welt

Volker Wagener14. November 2013

Das gab es noch nie. Ein Bundespräsident musste gehen, weil er Vorteile angenommen hatte, was er nicht durfte. Der Fall Christian Wulff ist auch auf seiner letzten Etappe noch peinlich, findet Volker Wagener.

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Charakter und Belastbarkeit erkennt man, wenn es ernst wird, heißt es. Der Ernstfall für Christian Wulff war Hannover. Hier, in der Hauptstadt des norddeutschen Bundeslandes Niedersachsen, arbeitete er sich vom Oppositionsführer zum Ministerpräsidenten hoch. Er galt als fleißig, hatte aber auch das Image des Langweilers. Dann, im Juni 2010, der Karrieresprung: der Aufstieg zum Bundespräsidenten. Er war Angela Merkels Kandidat. Auf der Karriereleiter versuchte Wulff auch sein Image zu korrigieren, doch auf diesem Weg muss er seine politischen Instinkte verloren haben.

Instinkte, über die ein Spitzenpolitiker unbedingt verfügen muss, will er den Verlockungen der Schmeichler und dem eigennützigen Werben der Reichen und Mächtigen widerstehen. Heute wissen wir, aus dem Bundespräsidenten Christian Wulff ist nach nur 598 Tagen im Amt der "Fall Wulff" geworden. Und der ist Lehrstück über die Versuchungen in der Politik, die Macht der Boulevard-Presse und die mangelnde Souveränität der Justiz.

Volker Wagener, Deutschland-Redaktion der DW - Foto: Per Henriksen
Volker Wagener, Deutschland-Redaktion der DWBild: DW

Ein Mann will nach oben - und schafft es

Rückblick: Tatort Hannover. Nur eine halbe Million Einwohner, aber obwohl Provinz eine Stadt der Promis. Altkanzler Gerhard Schröder nennt Hannover sein Zuhause, die Scorpions, Deutschlands wohl bekannteste Rockband, sind Hannoveraner und eine ganze Reihe sehr reicher und erfolgreicher Unternehmer haben hier ihre Adresse. Hannover rockt, sagen die, die mitmachen. Und Christian Wulff will dazugehören. Erst recht seine junge Frau Bettina, mit der er in zweiter Ehe verheiratet ist. Beide suchen den Kontakt zur Glamourwelt der Schönen und Reichen und finden ihn.

Christian Wulff kommt aus kleinen Verhältnissen. Er pflegte die Mutter und kümmerte sich um die jüngeren Geschwister. Ihm wurde nichts in die Wiege gelegt. Und Aufstiegsambitionen sind nicht verwerflich. Als Ministerpräsident eines großen Bundeslandes ist er schon weit oben angekommen. Doch das Leben seiner Freunde spielt in einer anderen Liga. Wulff versucht offenbar mitzuspielen und etwas vom Glanz und Glamour abzubekommen. Die Wulffs leihen sich Geld für den Hauskauf von einem Unternehmer zu Konditionen, die der Markt nicht hergibt, sie urlauben gesponsort und bekommen auch sonst vieles umsonst oder ermäßigt. Alles zusammen genommen Lappalien, nichts wirklich Kriminelles.

Aber warum nimmt er Vergünstigungen an, die nur seinem Amt zu verdanken sind?

All das wäre wohl dem kollektiven Vergessen anheimgefallen, hätte Wulff nicht einen Fehler zu viel gemacht. Die Bild-Zeitung, Deutschlands selbst ernannte Postille der kleinen Leute, plant im Herbst 2011 einen Bericht über Wulffs Hausfinanzierung. Das will er unterbinden. Er droht, er schimpft - und hinterlässt Spuren auf der Mailbox des Bild-Chefredakteurs. Ab da wendet sich die Zeitung gegen Wulff. Jahrelang war er für die Bild-Redaktion ein zuverlässiger Top-Kontakt mitten aus dem Spitzen-Milieu der CDU und wurde entsprechend hofiert und vorteilhaft ins Blatt gesetzt. Nun verkehren sich die Verhältnisse. Wer Herr und wer Hund ist, ist klar. Wulff ist jedenfalls nicht mehr Herr der Lage. Über mehr als zwei Monate verheddert sich Wulff in immer mehr Widersprüche. Am Ende bleibt nur der Rücktritt.

Große Recherche, kleine Beute - Das juristische Nachspiel

Monatelang ermittelte die Staatsanwaltschaft, Tausende Akten-Seiten wurden verfasst. Tatsächlich geht es nun um ganze 750 Euro, die sich die Wulffs zu Unrecht von einem Filmproduzenten für ein Abendessen, eine Hotelübernachtung, einen Oktoberfestbesuch und einen Babysitter haben spendieren lassen. Darüber will das Gericht nun 22 Tage verhandeln. Ein Musterprozess der Unverhältnismäßigkeit.

Im Ausland mag man sich verwundert darüber die Augen reiben, über welch läppische Vorwürfe ein Politiker in Deutschland stolpern kann. Einerseits ist dies dem Amt geschuldet. Der Bundespräsident ist zuallererst eine moralische Instanz. Deshalb ist ironischerweise das höchste Staatsamt machtpolitisch am schwächsten ausgestattet. Die Nummer eins im Staat muss vor allem eines sein: unangreifbar. Genau das war Christian Wulff wegen gleich mehrerer Fehler nicht mehr. Sein beschämender Auszug nach nur anderthalb Jahren im Berliner Präsidentensitz Schloss Bellevue ist deshalb noch lange nicht nur eine reine Wulff-Geschichte. Es ist auch ein Beispiel für die Gnadenlosigkeit der Boulevard-Medien und die Dokumentationswut der Juristen.

Ein peinliches Schauspiel, das mit typisch deutscher Gründlichkeit politisch, medial und nun auch juristisch zu einer beispiellosen Posse verkommen ist.