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Notwendige Gesellschaftsdebatte

Sandra Petersmann29. Dezember 2012

Sechs Männer haben eine Studentin misshandelt und vergewaltigt. Ihr Opfer ist nun tot. Die unglaubliche Brutalität hat eine nationale Protestwelle ausgelöst. Doch das reicht nicht, meint Sandra Petersmann.

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Sandra Petersmann (Foto: Christel Becker-Rau)
Sandra Petersmann, ARD-Korrespondentin in Neu DelhiBild: DW / Christel Becker-Rau

Auch jetzt, nach dem Tod der 23-jährigen Studentin, ist vor allem die junge urbane Mittelschicht auf der Straße. Viele fordern die Todesstrafe für die sechs inhaftierten Vergewaltiger, von denen einer minderjährig ist. Viele fordern den Staat auf, endlich zu handeln und Frauen besser zu schützen. Gerade Indiens städtische Mittelschicht hält den Staat für ideenlos, tatenlos und zutiefst korrupt. Für einen Selbstbedienungsladen der Mächtigen.

Keine Gemeinsamkeit

Und die Regierung? Verspricht wieder und wieder, schnell zu handeln. Regt eine öffentliche Datenbank für Sexualstraftäter an. Richtet zwei Untersuchungskommissionen ein. Tritt vor die Fernsehkameras und sagt den Demonstranten, dass sie gehört werden. Appelliert an die Menschen, die Ruhe zu bewahren und friedlich zu demonstrieren. Lässt das Regierungsviertel absperren. Da läuft viel getrennt und fast nichts gemeinsam zwischen den Regierenden und den Regierten.

Dabei wäre gemeinsames Handeln so dringend nötig, denn Gewalt gegen Frauen ist in Indien ein alltägliches gesellschaftliches Phänomen. In der Mega-Metropole Delhi wird alle 18 Stunden eine Vergewaltigung gemeldet. Dabei trauen sich nur die wenigsten Opfer zur Polizei - aus Angst, aus Scham und aus mangelndem Vertrauen. Drei von vier Sextätern bleiben straffrei.

Nur der Staat kann es nicht richten

Die Regierung unter Führung der Kongress-Partei muss den einmaligen, nationalen Aufschrei nach der tödlichen Gruppenvergewaltigung nutzen, um eine dringend nötige, öffentliche Debatte anzustoßen. Und sie muss sich an die Spitze dieser Debatte stellen. Noch hat sie es nicht getan. Und die Bürger müssen aufhören, immer nur nach dem Staat zu schreien, denn der Staat alleine kann die Rolle der Frau in der angeblich größten Demokratie der Welt nicht verändern.

Indiens Frauen brauchen Rückendeckung und Gleichheit. Im nationalen Parlament. In den Parlamenten der Bundesstaaten. In den Distrikt- und Dorfräten. In den Universitäten und Schulen. In den Familien. Zu Hause. Wenn ein Junge geboren wird, darf er nicht länger in dem Glauben aufwachsen, das bessere Geschlecht zu sein. Und Mädchen dürfen nicht länger in dem Glauben erzogen werden, eine Last zu sein, weil die Familie aus traditionellen Gründen eine teure Mitgift erwirtschaften muss. Mädchen dürfen nicht länger eingeimpft bekommen, dass Männer über ihr Schicksal entscheiden. Mädchen dürfen nicht länger als unerwünschtes Geschlecht gezielt abgetrieben werden. Auf dem Land dürfen Frauen nach dem Tod ihres Mannes nicht ungestraft aus ihrem Haus verjagt werden. Sexuelle Belästigung darf nicht länger als quasi gottgegebenes männliches Recht gelten.

Das sind die Themen, über die Indien diskutieren muss. Dauerhaft! Und nicht nur ein paar Tage oder Wochen lang. Dann wäre der sinnlose Tod der 23-jährigen Studentin, die so gerne Rettungssanitäterin geworden wäre, vielleicht ein bisschen weniger sinnlos.