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Historische Chance

Daniel Scheschkewitz16. September 2014

Rund vier Millionen Schotten sind aufgerufen, über die Unabhängigkeit ihres Landes abzustimmen. Die kulturelle und politische Andersartigkeit Schottlands rechtfertigt das Experiment, meint Daniel Scheschkewitz.

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Schottischer Dudelsack
Bild: Getty Images

Lange Jahre galt vielen Menschen in Deutschland und Mitteleuropa Schottland als eine entfernte Region im hohen Norden Britanniens, die man auch sprachlich gerne mit England gleichsetzte. Gut, man wusste zwar, dass es dort viel regnet, dass Schottlands Männer gerne mal einen Rock tragen, Whiskey trinken und dass ihr sprichwörtlicher Geiz Anderen als witzig galt. Doch dass Schottland bis 1707 über viele Jahrhunderte hinweg eine stolze, eigenständige Nation war, dass hatte seine jüngere Geschichte im Vereinigten britischen Königreich aus dem Bewusstsein der anderen Völker Europas verdrängt.

Damit ist es vorbei: Schottland ist spätestens mit dem Referendum über seine staatliche Unabhängigkeit auf die Landkarte Europas zurückgekehrt. Großbritannien, das staatliche Konstrukt des 18. Jahrhunderts, könnte seinerseits mit bisher noch kaum absehbaren politischen und ökonomischen Konsequenzen zur historischen Episode geraten. Dann nämlich, wenn die Mehrheit der Einwohner Schottlands über 16 Jahre am Donnerstag Ja zur Unabhängigkeit sagt. Wäre dies ein rückwärtsgewandter Schritt? Ein historisch-romantischer Anachronismus und Rückfall in die Kleinstaaterei im modernen, grenzenlosen Europa? Ich meine: Nein!

Schottland war immer anders

Schottland war immer anders als sein südlicher Nachbar England. Das hatten schon die Römer erkannt. Nicht umsonst ließ Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert an der Grenze zu den keltischen Pikten im Norden einen Erdwall errichten. Auch in den kommenden Jahrhunderten führten Kelten im Norden und Normannen und Angelsachsen im Süden manchen Krieg gegeneinander, in dem die schottischen Heere stets die Unabhängigkeit ihres Königreichs zu bewahren wussten.

Erst nach der Union der Königshäuser 1603 und dem verunglückten Versuch der Schotten, sich mit einer Ostindien-Gesellschaft die Grundlage für ein eigenes Handelsimperium zu legen, stimmte man 1707 notgedrungen der Parlamentsunion mit England zu. Damit wurde eine der Grundlagen für den Aufstieg Britanniens zur Weltmacht gelegt. Schotten und Engländer, ergänzt um das kohlenreiche Wales, schufen einen damals weltweit einzigartigen Ressourcenpool, der dem Inselreich politische Macht auf der Weltbühne und Wohlstand für viele Menschen im Innern einbrachte. Die kulturellen und politischen Unterschiede brachen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann aber mit aller Macht, wieder auf.

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DW-Redakteur Daniel ScheschkewitzBild: DW

Die Union mit England ist aus der Zeit gefallen

Margret Thatcher de-industrialisierte Britannien und sanierte den maroden Staatsaushalt mit dem schwarzen Gold aus den Nordsee-Ölfeldern Schottlands. Die Schotten nahmen es erst gelassen hin, doch als sie merkten, dass in ihrer Öl-Kapitale Aberdeen, die eigentlich aussehen müsste wie ein schottisches Abu Dhabi, große Bevölkerungsteile weiterhin in Armut und Elend lebten, kamen ihnen Zweifel auf. Zweifel, die sich verstärkten, als Thatchers Konservative Partei eine bis heute nur kurz unterbrochene Regierungsverantwortung im britischen Parlament von Westminster übernahmen. Und das, obwohl die Schotten in allen Wahlen seit 1997 gerade höchstens einen Tory-Abgeordneten ins britische Unterhaus entsandt haben.

In dem der politischen Einflussnahme und seinen ökonomischen Möglichkeiten weitestgehend beraubten Schottland wuchs der Einfluss der Nationalisten. In den 90er Jahren gelang es ihnen, London ein eigenes Regionalparlament abzutrotzen, in dem sie seitdem die Regierung stellen.

Schottlands Renaissance

Schottland erlebt nun schon seit einigen Jahrzehnten eine kulturelle Renaissance. Das Edinburgher Kulturfestival gehört zu einem der am besten besuchten und innovativsten Künstlertreffen der Welt. Schottische Musik erfreut sich rund um den Globus großer Beliebtheit. Schottische Universitäten stehen - gebührenfrei - Studenten aus aller Welt offen. Nicht erst seit dem geklonten Schaf Dolly produzieren schottische Akademiker in vielen Wissenschaftsbereichen exzellente Resultate, die über die Grenzen des Vereinigten Königreichs hinaus Anerkennung finden.

Während in England Bildung mehr und mehr zu einem Privileg für Reiche wird und immer neue Privatschulen aus dem Boden schießen, bleibt in Schottland auch höhere Bildung allen Menschen zugänglich. Das weltoffene Schottland zieht bemerkenswert viele und hochqualifizierte Einwanderer an. Die UKIP-Partei ist hier bedeutungslos, während ihr in England Fremdenfeindlichkeit und zunehmender Isolationismus Wahlerfolge en masse bescheren.

Für die EU eine Bereicherung

Ein unabhängiges Schottland würde die Sofort-Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben, es würde sich nicht ab-schotten. Im Unterschied dazu hat der britische Premier David Cameron für 2017 ein Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU angekündigt. Er könnte damit zu spät kommen. Die Zeichen stehen 50 zu 50, dass Schottland am Donnerstag die historische Chance ergreifen wird und in einem demokratisch-friedlichen Akt zur eigenen, selbstbestimmten Nationalstaatlichkeit zurückkehrt. Auch ökonomisch muss den Schotten deswegen nicht bang sein: Trotz der begrenzten Ölreserven würde ein schottischer Staat mit seinen enormen erneuerbaren Energie-Ressourcen zu den 20 wirtschaftsstärksten Nationen der Welt gehören. Europa könnte davon nur profitieren.