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Kommentar: Gratwanderung ohne Kopftuch

Baha Güngör1. Oktober 2013

Das "Demokratiepaket" Erdogans bleibt hinter den Erwartungen zurück, meint Baha Güngör. Er vermisst echte demokratische Schritte hin zu mehr Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit in der Türkei.

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Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan festigt seinen "Basta"-Kurs: Das seit Wochen im In- und Ausland mit Spannung erwartete "Demokratiepaket" stellte der Anführer des religiös-konservativen Lagers in der Türkei wie gewohnt selbstsicher vor, erlaubte aber keine Fragen von Journalisten nach Details. So riskierte er nicht, sich in Widersprüche zu verstricken - an denen es im "Demokratiepaket" nicht fehlt.

Porträt von Baha Güngör, Leiter der Türkisch-Redaktion der DW (Foto: DW)
Baha Güngör, Leiter des türkischen ProgrammsBild: DW

Mit der Aufhebung des Kopftuchverbots für Staatsbedienstete löst Erdogan ein Versprechen ein, das er noch vor seinen überwältigenden Wahlsiegen seit 2002 abgegeben hatte. Das fast 90-jährige Verbot gehört nun der Vergangenheit an. Nur für Richterinnen, Staatsanwältinnen, Soldatinnen und Polizistinnen gilt es weiterhin. Nun stellt sich die Frage, wann diese Entscheidung in einen Kopftuchzwang münden wird. Es fällt sehr schwer, den Kritikern zu widersprechen, die in dem "Demokratiepaket" ein weiteres Zeichen für eine schleichende Islamisierung des NATO-Landes Türkei sehen.

Neue Freiheiten für die Kurden - aber keine Selbstverwaltung

Den Kurden werden neue Freiheiten erlaubt. Die Buchstaben Q, X und W aus dem kurdischen Alphabet werden enttabuisiert. Ebenso der Unterricht in anderen Sprachen als Türkisch - doch dies gilt nur für Privatschulen.

Städte und Dörfer in den historischen Siedlungsgebieten der Kurden dürfen ihre ursprünglichen kurdischen Namen wieder annehmen: Das ist gut. Aber hatten die Kurden nicht mehr Freiheiten erwartet, die ihnen beispielsweise die Selbstverwaltung in ihren Regionen ermöglichen?

Die Zehn-Prozent-Hürde, die bei Parlamentswahlen vor allem kurdische Parteien am Einzug ins Plenum der Großen Nationalversammlung der Türkei hindert, soll "zur Diskussion gestellt" werden, so Erdogan. Den Mut und die Weitsicht, diese von der Militärdiktatur vor 30 Jahren eingeführte undemokratische Barriere zu beseitigen, bringt er nicht auf. Stattdessen erklärt er nur, dass er "offen für eine Diskussion" darüber sei. Seine ursprünglichen Wahlversprechen hat er auch in diesem Punkt noch nicht erfüllt.

Polizeigewalt gegen Demonstranten nicht thematisiert

Die vielen inhaftierten Journalisten, die Forderungen aus dem In- und Ausland nach echten demokratischen Schritten zur Erweiterung der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit thematisiert Erdogan in seinem "Demokratiepaket" nicht. Auch die tatsächliche Unabhängigkeit der Justiz ist kein Bestandteil der angekündigten Reformen.

Die EU-Kommission begrüßt Erdogans Reformpaket - ohne jedoch danach zu fragen, warum die zu harte Polizeigewalt gegen Demonstranten, die für mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft der Türkei auf die Straße gegangen sind, weiterhin ein Tabu ist. Es liegt auf der Hand, dass dieses "Demokratiepaket" eindeutig hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Vielmehr erweckt die jüngste Reforminitiative den Eindruck, dass sie als Basis für den Wahlkampf von Erdogans regierender AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) dient - vor den Präsidentschafts- und Kommunalwahlen im nächsten Jahr und nicht zuletzt vor den Parlamentswahlen in zwei Jahren. Die Türkei wird in internationalen Vergleichen noch lange die hinteren Plätze belegen, wenn es um die tatsächlich gelebten Freiheiten geht - und nicht bloß um jene, die auf dem Papier stehen.