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Kommentar: Erdogans gefährlicher Allmachtsanspruch

Baha Güngör17. Juni 2013

Die brutale Räumung des Gezi-Parks stellt den vorläufigen Höhepunkt einer Politik dar, die einen gefährlichen Allmachtsanspruch von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan widerspiegelt, meint DW-Redakteur Baha Güngör.

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Den Punkt der Umkehr zur Vernunft und damit zur Entspannung hat Recep Tayyip Erdogan verpasst. Der türkische Ministerpräsident hat sich für Konfrontation mit seinen politischen Widersachern entschieden und gegen einen beruhigenden aufrichtigen Dialog, der den inneren Frieden im NATO-Staat Türkei sichern würde. Das brutale Vorgehen der türkischen Polizei am späten Samstagabend (15.06.2013) gegen ein Zeltlager von Umweltschützern und Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen im Gezi-Park am zentralen Istanbuler Taksim-Platz war der vorläufige Höhepunkt einer Politik, die einen gefährlichen Allmachtsanspruch widerspiegelt. Das rücksichtslose Vorgehen auch gegen Frauen, Kinder und alte Menschen ist beispiellos in der jüngeren Geschichte der inzwischen 90 Jahre alten türkischen Republik.

Porträt von Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion der DW (Foto: DW)
Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion der DWBild: DW

Erdogan fehlt das Verständnis von demokratischen Grundregeln. Das bewies er am Wochenende auch bei zwei Großkundgebungen seiner mit absoluter Mehrheit regierenden religiös-konservativen Partei AKP in Ankara und in Istanbul. Während seine Anhänger mit allen den Stadtverwaltungen zur Verfügung stehenden Mitteln zu den Kundgebungen transportiert wurden, verhinderte Erdogans Polizei in Ankara und in Istanbul Demonstrationen gegen ihn erneut mit Tränengas und teilweise mit Chemikalien angereicherter Flüssigkeit aus den Hochdruckdüsen von Wasserwerfern.

Zweifel an der Treue des Regimes zum Völkerrecht

Dass sich dennoch immer mehr Menschen der Protestbewegung anschließen, und dabei bereit sind auch unter Lebensgefahr an Protestaktionen teilzunehmen, zeigt, dass die Anti-Erdogan-Front in der inzwischen hoffnungslos politisierten und gespaltenen türkischen Gesellschaft weder ihren Mut noch ihre Courage zur Auflehnung gegen das Diktat der AKP verliert. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die sogar Krankenhäuser und Hotels mit Tränengas angriffen, in denen Verletzten erste Hilfe angeboten wurde, verstärkt derweil die Zweifel an der Treue des Regimes zum Völkerrecht.

Erdogan ist geblendet von seiner Wut gegen andersdenkende politische Parteien und Gruppen. Den Oppositionsführer im türkischen Parlament in einem Atemzug mit Terroristen zu nennen, beweist seinen fehlenden Respekt vor der demokratischen Auseinandersetzung mit seinen politischen Gegnern. Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsender, die er nicht kontrollieren kann, lässt er über die Medienaufsichtsbehörden verbieten oder mit drastischen Strafen belegen. Die Berichterstattung internationaler Medien vermag er freilich nicht zu kontrollieren. Ihnen wirft er vor, Handlanger von Gegnern einer prosperierenden Türkei im Ausland zu sein.

Friedliche Koexistenz von Islam und Demokratie gefährdet

Dabei hätte Erdogan überhaupt keinen Grund dafür, sich derart zu vergaloppieren. Der türkischen Wirtschaft geht es gut, der Tourismus floriert und die Rolle der Türkei als regional bedeutendes Land versprach viel Unterstützung aus dem Ausland. Doch jetzt ist die friedliche Koexistenz von Islam und Demokratie auf der Basis des Laizismus, der strikten Trennung von Staat und Religion, gefährdet.

Zur politischen Größe eines international respektierten, demokratisch einwandfrei legitimierten Regierungschefs hat es Erdogan nicht gebracht. In der sicheren Erwartung, bei den nächsten Parlamentswahlen in spätestens zwei Jahren das 2011 erzielte Traumergebnis von fast 50 Prozent zu steigern, verlor der Ministerpräsident Nerven und Geduld, weil ihn die Kritik aus dem In- und Ausland an seinem Umgang mit Journalisten und Andersdenkenden zunehmend nervte.

Europa muss Einflussmöglichkeit wahren

Was jetzt auf keinen Fall passieren darf, ist der Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die EU und vor allem Deutschland sollten es auf keinen Fall riskieren, der Demokratiebewegung in der Türkei in den Rücken zu fallen. Europa muss sich die Möglichkeit offen halten, weiterhin Einfluss auf die Entwicklung in der Türkei nehmen zu können. Denn eine schnelle innenpolitische Entspannung ist nicht in Sicht. Hauptverantwortlich dafür ist Erdogan mit seiner Ablehnung eines ehrlichen Dialogs mit seinen politischen Gegnern und zivilgesellschaftlichen Kritikern.