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Ein überfälliger Sinneswandel

Rolf Wenkel21. Mai 2014

Auch der dümmste Deutsche scheint jetzt zu begreifen, dass wir Zuwanderer brauchen. Aber kommt das von Herzen oder ist es bloßes wirtschaftliches Kalkül, fragt Rolf Wenkel.

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Porträt - Rolf Wenkel
Bild: DW

Es ist schon komisch: Wirtschaftswissenschaftler in aller Welt bemängeln die einseitige Exportorientierung Deutschlands, sie lähme die wirtschaftliche Entwicklung im übrigen Europa, heißt es. Politiker beklagen, Deutschland drücke vor allem den südlichen Staaten der Europäischen Währungsunion ein Spardiktat auf, das jedes Wachstum im Keim ersticke. Außenpolitiker beklagen, Deutschland scheue sich davor, weltpolitisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Verkehrspolitiker mahnen, Deutschland drohe zur Schlagloch-Republik zu verkommen, sie fahre voll auf Verschleiß, was die Infrastruktur angeht. Und die Bürger in Deutschland? Die jammern je nachdem über die hohe Steuerlast, die Bürokratie, den Schilderwald, notfalls auch über das schlechte Wetter.

Will jemand in so ein Land einwandern? Komischerweise ja, schließlich hat die OECD gerade festgestellt, dieses Land sei nach den USA das zweitbeliebteste Land für Zuwanderer geworden. Zwischen der Selbstwahrnehmung und der Einschätzung durch andere bestehen also durchaus erhebliche Unterschiede. Deutschland wird draußen ganz offenbar als Land mit, sagen wir, vielen Möglichkeiten angesehen, direkt nach den USA, dem Land mit den bekanntlich unbegrenzten Möglichkeiten.

Machen wir uns nichts vor: Die Menschen wollen nicht zu uns ziehen und dauerhaft hier bleiben, weil wir den ganzen Tag Bier trinken und Lederhosen tragen. Nein, unsere Wirtschaft, unser Lohnniveau, unsere Kaufkraft, das ist der Magnet. Und der zieht eben nicht die Sozialtouristen an, wie populistische Politiker vom rechten Rand es uns weismachen wollen. Dieser Magnet zieht immer mehr gut ausgebildete Menschen an, vor allem aus dem Süden und Osten Europas, weil sie dort keine Perspektiven haben. Ein Drittel ist sogar hochqualifiziert, und in der Summe zahlen sie mehr Steuern und Abgaben als sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen.

Das ist übrigens nicht neu. Ausländische Mitbürger haben auch schon vor 20 Jahren mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beigetragen als der deutsche Durchschnittsbürger. Nur: Damals wollte das keiner wissen, damals war das Klima ein anderes. Damals wurde an deutschen Stammtischen die Xenophobie gepflegt, der Sozialneid, die Vorurteile, die unter anderem in den rassistisch motivierten Übergriffen in der ostdeutschen Kleinstadt Hoyerswerda gipfelten, bei denen die Polizei sich damals merkwürdig passiv verhielt.

Vorsicht, wenn "Bild" jubelt

Inzwischen aber hat sich das Klima geändert. Auch der dümmste und auf populistische Parolen geeichte Politiker ahnt, dass er mit dem Schüren von Fremdenhass und Sozialneid keinen Blumentopf mehr gewinnen kann, auch die konservativsten Politiker müssen anerkennen, dass ohne qualifizierte Zuwanderer weder unsere Wirtschaft noch unser System der Altersversorgung ihr bisheriges Niveau halten können.

Ja, das Klima hat sich geändert - selbst die Bild-Zeitung jubelt: "Alle wollen zu uns!". Spätestens jetzt sollte man kurz innehalten und nachdenken. Jubeln wir, weil wir plötzlich Ausländer lieben und neugierig auf fremde Kulturen sind? Oder jubeln wir, weil uns die Lobby der deutschen Industrie und der Arbeitgeber erfolgreich eingetrichtert hat, das zunehmend älter werdende und bislang noch gut beschäftigte Deutschland drohe sich ohne den Zuzug junger und qualifizierter Menschen selbst abzuschaffen?

Es steht zu befürchten, dass es das wirtschaftliche Kalkül ist, das uns Menschen aus anderen Teilen der Welt willkommen heißen lässt, und nicht die Liebe zu unseren Mitbürgern aus dem Ausland. Indes: Zuwanderer ausschließlich auf ihre wirtschaftliche Nützlichkeit zu reduzieren, fein säuberlich in Nettozahler und Sozialschmarotzer zu trennen, das ist auf Dauer keine solide Grundlage für eine nachhaltige Integrationspolitik.

Im Grunde haben die Deutschen immer noch ihre Xenophobie, auch wenn sie sich nicht mehr so laut in Stammtischparolen äußert. Und deshalb ist zu befürchten, dass noch einmal 20 Jahre ins Land gehen, bis wir die jungen Polen, Rumänen, Bulgaren, Griechen, Spanier, Portugiesen wirklich in unser Herz geschlossen haben.