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Das Undenkbare denken

Christian F. Trippe26. Dezember 2014

Die Gefahr eines Krieges in Europa ist so groß wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Seit dem Kalten Krieg fehlt eine sicherheitspolitische Doktrin, meint Christian F. Trippe.

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Bilder aus der Ukraine - Agenturfotograf Bulent Kilic
Bild: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Seit dem Fall der Berliner Mauer galt ein Krieg zwischen zwei Staaten in Europa als praktisch ausgeschlossen. Nun aber zwingt Russland die Verbündeten in EU und Nato dazu, das Undenkbare zu denken. Es mangelt nicht an Szenarien, wie der regionale, vergleichsweise "kleine" Konflikt in der Ost-Ukraine sich auswachsen könnte zu einer echten Weltkrise: Russland könnte aus der desolaten humanitären Lage in Donezk einen Grund für eine offene Intervention konstruieren. Die USA könnten in großem Stil Waffen an die Ukraine liefern – oder gar mit Luftschlägen auf die Stellungen der Aufständischen direkt in die Kämpfe eingreifen.

Die teilweise kopflose Diskussion, wie der Ukraine wirksam geholfen werden kann, spiegelt die Ratlosigkeit der Nato wider. Es gibt derzeit keine sicherheitspolitische Doktrin und keine Strategie, um auf die neuartige Bedrohung aus dem Osten zu reagieren. Konsterniert registrieren westliche Sicherheitspolitiker die militärischen Muskelspiele, die der Kreml im Gefolge der Ukraine-Krise aufführt.

Brandgefährliche Manöver

Kaum ein Tag vergeht, an dem russische Kampfflugzeuge nicht über der Ostsee vor dem Luftraum der drei baltischen Staaten abgefangen werden. Manche dieser Manöver sind brandgefährlich. Denn die russischen Militärmaschinen schalten gerne ihren Transponder aus und bleiben somit – für die zivile Luftfahrt – unsichtbar.

01.2012 DW Europa aktuell Moderator Christian Trippe
Christian F. TrippeBild: DW

Die Liste ernsthafter Zwischenfälle im Ostseeraum wird täglich länger. Mal kreuzt eine Armada russischer Kriegsschiffe plötzlich vor der litauischen Küste, dann verirrt sich ein nicht-identifiziertes Unterwasserfahrzeug in schwedische Hoheitsgewässer. Schweden will jetzt wieder verstärkt Reservisten zu Wehrübungen einberufen.

Wie in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges

Die drei baltischen Staaten haben in den letzten Monaten Waffen für mehr als eine Milliarde Euro bestellt, vor allem Systeme zur Panzerabwehr. Erst im Frühsommer hatten russische Streitkräfte nicht weit von den Grenzen zum Baltikum Großmanöver abgehalten. Das alles ist unterlegt mit einer dröhnenden russischen Rhetorik gegen Litauen, Lettland und Estland. Alle drei Länder sind in der Nato. Auch das Nato-Mitglied Rumänien hat sich schon militärische Drohungen aus Moskau anhören müssen, im Ringen um Einfluss in der (rumänisch-sprachigen) Republik Moldau. Rumänien gilt mittlerweile als der dritte Gefahrenherd, neben der Ukraine und dem Baltikum.

Der Gesprächsfaden zwischen der Nato und Russland war immer dünn, ein festes Band der Kooperation hat sich daraus nie weben lassen. Nun aber ist auch dieser dünne Faden gerissen. Die eine Seite weiß nicht mehr, was die andere plant. Wie in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges sind es wieder ausschließlich Einschätzungen der Geheimdienste und Analysen des Militärs, die das Bild vom Gegenüber prägen, von seiner Rüstung und von seinen militärpolitischen Absichten.

Europa - ein unsicherer Kontinent

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat das vor kurzem beklagt: "Wir reden nur übereinander, nicht miteinander." Die neue Sprachlosigkeit ist besonders schlimm, weil in den letzten Jahren das System konventioneller Rüstungskontrolle in Europa zusammen gebrochen ist. Ursprünglich hatten die Nato und Russland im sogenannten KSE-Vertrag Obergrenzen für konventionelle Waffen festgeschrieben, außerdem waren gegenseitige Kontrollen und regelmäßige Gespräche vereinbart worden. Doch der KSE-Vertrag ist rechtlich suspendiert und politisch tot.

An der Schwelle zum neuen Jahr ist Europa ein unsicherer, weil an seinen Nahtstellen unberechenbarer Kontinent. Europa braucht jetzt dringend beides: Eine neue sicherheitspolitische Doktrin – und eine Politik zur Vertrauensbildung.