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Kommentar: Bittere Klarheit

Baha Güngör10. August 2014

Die türkische Präsidentenwahl ist entschieden: Aus Regierungschef Erdogan wird Staatschef Erdogan. Das ist nicht nur bitter für die Gegner einer weiteren Islamisierung des NATO-Staates, meint Baha Güngör.

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Stimmzettel Türkei (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Das Votum der türkischen Wähler, die erstmals selbst ihr Oberhaupt wählen durften, ist eindeutig: Gemütlich übersprang Recep Tayyip Erdogan die 50-Prozent-Hürde gleich im ersten Wahlgang. Dieses Ergebnis ist demokratisch korrekt und somit unanfechtbar. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite aber herrscht die Angst vor einer weiteren Verwandlung der Türkei in eine islamische Republik - mit zunehmenden religiösen Vorgaben für die Bürger im Alltag.

Mit Erdogans Sieg fällt das Reformwerk des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk weiter auseinander. Die kemalistischen Eliten wollten es in den vergangenen Jahren zwar nicht wahrhaben - aber ihre Arroganz angesichts vieler Probleme, die das alltägliche Leben für die Menschen erheblich erschweren, führte zum heutigen politischen Status Quo in der Türkei. Denn so konnte Erdogans islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ihre 2002 mit 34 Prozent erdrutschartig gewonnene Regierungsmacht stetig ausbauen und zuletzt bei den Parlamentswahlen vor drei Jahren auf fast 50 Prozent erhöhen. Am Ende gewann die AKP jede Wahl und krönte ihren Aufstieg zur erdrückenden politischen Macht in der Türkei jetzt mit dem Aufstieg ihres Vorsitzenden und Regierungschefs zum Staatspräsidenten.

Bahaeddin Güngör, Leiter des türkischen Programms der DW (Foto: DW)
Baha Güngör leitet das türkische Programm der DWBild: DW

Erdogan weiß, was der einfache Bürger will

Die AKP ist aus Schutt und Asche von vier religiösen Parteien hervorgegangen. Diese waren zwischen dem Ende der 1960er Jahre und der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von den Militärs und dem von ihnen beherrschten Verfassungsgericht als "Zentrum fundamentalistischer Aktivitäten" verboten worden. Aufgrund der Erfahrung dieser Vorgängerparteien wusste Erdogan genau, wo den Durchschnittsbürger der Schuh drückte, was er brauchte und was er wollte. Das haben die Wähler jetzt gewürdigt. Vor allem wurde Erdogan bei der Wahl aber dafür belohnt, dass er dem türkischen Volk ein ganz neues Selbstwertgefühl auf der Basis religiöser Werte gab.

Dass dabei die Meinungs- und Pressefreiheit und die demokratischen Entfaltungsräume derart stark eingeschränkt wurden, dass die Türkei bei entsprechenden internationalen Vergleichen beschämende Plätze in den hinteren Reihen einnimmt, interessiert Erdogan nicht. Und auch seine Anhänger ignorierten die massiven Vorwürfe von Korruption und Amtsmissbrauch an Erdogan, seiner Familie und seinem politischen Umfeld als Preis für den erreichten relativen Wohlstand.

Achtungserfolg für den Kurden Demirtaş

Erdogan ist für fünf Jahre gewählt. Der 60-Jährige wird aber mindestens eine weitere Amtszeit Staatschef bleiben, davon kann man jetzt schon ausgehen. Somit wird er bei der 100-Jahr-Feier der Republik im Jahr 2023 als der Mann in die Geschichte eingehen, der fast das gesamte Reformwerk Atatürks rückgängig gemacht hat. Ein neues Regime auf der Basis eines Präsidialsystems mit einem in seiner Bedeutung marginalisierten Parlament ist sehr wahrscheinlich. Wohl deshalb spricht Erdogan stets von der "alten" und der "neuen" Türkei.

Sein Herausforderer Ekmeleddin İhsanoğlu hat mit Unterstützung von 14 Parteien lediglich knapp 39 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht. Einen Achtungserfolg erzielte der 41-jährige kurdische Politiker Selahattin Demirtaş mit gut neun Prozent. Das könnte das Signal dafür sein, dass seine pro-kurdische HDP bei den nächsten Parlamentswahlen erstmals die Zehn-Prozent-Hürde schafft.

Anhänger von Erdogan feiern seinen Sieg (Foto: ADEM ALTAN/AFP/Getty Images)
Mehr als 52 Prozent der Wähler stimmten für ErdoganBild: Getty Images/AFP

Europas Einfluss schwindet

Auch wenn Erdogan in der Türkei bei einigen angesehen ist - an seinem außenpolitischen Ruf muss er auf jeden Fall noch arbeiten. Umgeben von Krisenzentren wie Irak, Syrien, Gaza-Israel, Ukraine-Russland und neuerdings wieder Kämpfen zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Berg Karabach muss Erdogan die Befürchtungen beseitigen, er werde Öl ins Feuer gießen. Denn genau das hatte er in der Vergangenheit sehr häufig getan.

Die EU - und vor allem Deutschland - wird einen zunehmend ungemütlichen Erdogan zu verkraften haben. Das EU-Abenteuer der Türkei neigt sich unweigerlich dem Ende zu. Das muss nicht das Ende der Welt bedeuten, aber die Möglichkeiten des Einflusses der EU auf die Entwicklungen in der Türkei dürften immer geringer werden. Ob das gut ist für die Interessen der Europäer in der Region, darf zumindest bezweifelt werden.