1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Keine Lust auf Schule

Susanne Dickel26. September 2013

Die einen genehmigen sich ein paar Fehlstunden, die anderen kommen wochenlang nicht zur Schule. Schwänzen ist in Industriestaaten weit verbreitet. Der deutsche Verein Apeiros hilft Kindern, wieder zur Schule zu gehen.

https://p.dw.com/p/19nbD
Karim Rahimi (Name geändert) mit einem Betreuer (Foto: DW/Susanne Dickel)
Bild: DW/S. Dickel

Konzentrierte Ruhe liegt im Raum des Instituts Apeiros in Wuppertal. Schüler sitzen einzeln oder zu zweit an kleinen Tischgruppen und beugen sich über ihre Hefte. Der Raum ist hell, freundlich, mit flauschigen Teppichen und Pflanzen in der Ecke. Es wirkt wie die ideale Schule. Doch auf den Zeugnissen der Kinder und Jugendlichen stehen hunderte Fehlstunden. Sie sind Schulverweigerer.

Noch vor drei Jahren war Karim Rahimi (Name geändert) einer von ihnen. Damals hing er in einer Traumwelt fest: "Ich wollte Profifußballer werden", erzählt der heute 19-Jährige, dessen Eltern aus Afghanistan stammen. Die Schulstunden verbrachte er lieber auf dem Bolzplatz. Es gab Gespräche mit der Mutter, Mahnungen, Bußgelder - trotzdem ging Karim nicht zur Schule. "Und dann hat mich eines Tages Stefan Schwall angerufen und gesagt: So geht's nicht weiter, du kommst hierher."

Stefan Schwall ist Gründer und Leiter von Apeiros, einem von vielen Projekten in Deutschland, die versuchen, Kinder in die Schule zu integrieren. Das griechische Wort bedeutet "Chaos, aus dem Ordnung entsteht". Ordnung bringt das Institut den Schülern in kleinen Schritten bei. Zwei Stunden am Tag müssen sie kommen, zum Lernen werden sie nicht gezwungen. "Das Komische ist: Irgendwann fangen sie von alleine an", erzählt Schwall.

Unterrichtsmaterialien (Foto: DW/Susanne Dickel)
Hier finden die Jugendlichen alles, was man zum Lernen braucht - wenn man denn willBild: DW/S. Dickel

Schulen behalten Zahlen für sich

Lohnt sich die intensive Hilfe für ein paar Einzelfälle überhaupt? In Deutschland gibt es keine Zahlen darüber, wie häufig Kinder schwänzen. "Jede Schule möchte solche Zahlen lieber unter der Decke halten, weil sie Eltern abschrecken", erklärt Professor Norbert Grewe, der an der Universität Hildesheim das Phänomen Schulschwänzen erforscht. Auch verlässliche Daten aus dem Ausland gibt es kaum.

Grewe schätzt, dass etwa drei bis fünf Prozent aller Schüler kaum noch in der Klasse erscheinen. Das mag für Länder, in denen viele Kinder gar nicht die Chance haben, zur Schule zu gehen, nach einem Luxusproblem klingen. Doch gerade diese Jugendlichen schaffen häufig keinen Schulabschluss und haben Probleme, einen Job zu finden. Deshalb diskutieren Politiker immer wieder, wie man die Schwänzer in die Schule bekommt. Die Vorschläge reichen von der Polizeieskorte am Morgen bis zum Jugendarrest.

Eine Mitarbeiterin des Vereins Apeiros (Foto: DW/Susanne Dickel)
Besser als Einzelfallhilfe wie hier wäre PräventionBild: DW/S. Dickel

Mehr Prävention

Wissenschaftler Grewe fordert hingegen mehr Prävention. Denn viele Schulverweigerer starten ihre Karriere als "Gelegenheitsschwänzer". Sie fehlen nur ein paar Stunden, weil sie etwa für eine Prüfung nicht gelernt haben. Das machen etwa vierzig Prozent aller schulpflichtigen Kinder.

Ein Projekt aus dem britischen West Sussex macht vor, wie Gelegenheitsschwänzern geholfen werden kann: Alle Fehlzeiten, egal ob entschuldigt oder nicht, werden in der Schule registriert. Sammelt ein Kind zu viele Fehlstunden, besprechen Sozialpädagogen mit ihm, wie es den Lernstoff aufholen kann.

Auch der Verein Apeiros kooperiert mit den Wuppertaler Schulen und setzt zunächst verschiedene Druckmittel wie Bußgelder und Strafen ein. "Aber wenn wir mitkriegen, das Kind kann auf so ein hartes Eingreifen nicht reagieren, hören wir sofort damit auf", erklärt Schwall. Dann bekommt das Kind Unterstützung.

Das Problem ist die Gesellschaft

Laut Schwall gibt es zwei Gruppen von Schulverweigerern: Die einen vermeiden die Schule aus Angst, zum Beispiel weil sie gemobbt werden. Die anderen rebellieren gegen Regeln, weil ihnen nie Grenzen gesetzt wurden – oder auch zu viele. Aber eigentlich, meint Schwall, sei Schwänzen ein gesellschaftliches Problem. In Deutschland würden die Kinder zu früh nach Leistung selektiert, anders als in Skandinavien oder den USA.

Ein Mitarbeiter des Vereins Apeiros mit einer Schülerin (Foto: DW/Susanne Dickel)
Immer ansprechbar: Zehn Betreuer kümmern sich bei Apeiros um 20 KinderBild: DW/S. Dickel

Außerdem hänge hier der Erfolg in der Schule vor allem von den Eltern ab. "Kinder aus Migrantenfamilien haben wir selten", berichtet Schwall. "Die sind meistens eher autoritär stukturiert, da wird noch mehr aufeinander geguckt." Dafür gebe es immer mehr Kinder aus Scheidungsfamilien. Auch Karims Eltern haben sich getrennt. Mitten im Schuljahr zog seine Mutter mit ihm nach Wuppertal. Damit begann seine Schwänzerkarriere.

Erfolge geben Selbstvertrauen

Doch je seltener Karim zur Schule ging, umso mehr verlor er das Vertrauen in sich: "Ich hatte keine Erfolge. Ich hab' mir nichts mehr zugetraut." Gerade diese Erfolge aber sind wichtig, damit Kinder gern zur Schule gehen. Bei Umfragen dazu schneide Deutschland regelmäßig am schlechtesten ab, berichtet Wissenschaftler Grewe. Vorne lägen hingegen die USA oder Australien. "Es gab hier zuletzt immer mehr Druck auf die Schüler", sagt Grewe. "Nur wenige erfüllen die Leistungskriterien, aber die anderen müssen ja trotzdem zur Schule, auch wenn sie weniger Erfolg haben."

Unterrichtsmaterialien und Spiele (Foto: DW/Susanne Dickel)
Domino spielen statt sich vor Noten fürchtenBild: DW/S. Dickel

Mit der Hilfe von Apeiros schaffte Karim den Realschulabschluss und merkte: Ich kann ja doch was! Jetzt ist er in der zwölften Klasse. Sein Notenschnitt: 1,7. Immer noch fehlt er öfters, aber er hat gelernt, strukturiert zu arbeiten. Und er hat ein realistisches Ziel: Karim will Sportmedizin studieren.