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Unempfindlich gegen Schmerzen

Gudrun Heise22. Oktober 2014

Ohne Schmerzen leben - für viele eine paradiesische Vorstellung. Für diejenigen, denen wirklich nichts weh tut, ist es die Hölle. Denn auch Verletzungen, die man nicht spürt, können gefährlich sein.

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Kleiner Junge vor der Herdplatte (Foto: Fotolia/photophonie).
Bild: Fotolia/photophonie

Sie können ihre Hand auf die heiße Herdplatte legen, auf einen Nagel treten oder sich das Bein brechen - sie spüren es nicht. Weltweit sind etwa 100 Fälle von Menschen bekannt, die keinerlei Schmerz empfinden. Aber der ist die natürliche Alarmanlage des Körpers. "Gerade der Akutschmerz ist dazu da, dass der Körper geschützt wird", erklärt Privatdozent Ingo Kurth vom Institut für Humangenetik am Uniklinikum Jena. "Das heißt, wir lernen dadurch, was für den Körper gefährlich ist und vermeiden dann in Zukunft alles, was Schmerzen auslöst. Wenn ich einmal auf eine heiße Herdplatte fasse, dann merke ich, dass es extrem schmerzhaft ist und meinen Körper schädigt. In Zukunft werde ich eine solche Situation also vermeiden."

Mutation als Ursache

Kurth war an einer Studie zur Schmerzunempfindlichkeit beteiligt. Dabei hat er Patienten analysiert, die einen Defekt bei einem Gen aufweisen. Dieser Defekt reiche aus, um das Schmerzempfinden vollkommen auszuschalten. "Wir haben Veränderungen in einem Eiweiß-Baustein gefunden, der ganz wichtig für die elektrische Erregung von Schmerz leitenden Nervenzellen ist. Wenn es in diesem Eiweiß-Baustein zu Mutationen kommt, dann scheinen die Schmerz leitenden Fasern das Signal nicht mehr aus der Körperperipherie, also aus den Armen, aus den Beinen ans Gehirn weiterzugeben."

Die Jenaer Forscher haben eine Mutation im Gen SCN11A gefunden. Die führt zu einer Überaktivität in Natriumkanälen und damit zu Schmerzunempfindlichkeit.

Ein Aufsehen erregender Fall

An Szenen aus einem Horrorfilm lässt die Geschichte eines 14-jährigen, pakistanischen Jungen denken, die 2006 für Aufsehen sorgte. Der Junge verdiente sein Geld als Gaukler, führte auf der Straße verschiedene Kunststücke auf. Er lief über brennende Kohlen und rammte sich Messer in die Arme. Das waren nicht irgendwelche Tricks, sondern Realität. Normalerweise hätte er unter unerträglichen Schmerzen leiden müssen. Aber der Junge spürte nichts. Nach seiner für die Zuschauer spektakulären Vorstellung ging er ins nächste Krankenhaus und ließ seine Wunden behandeln, vermutlich ohne jegliches Narkosemittel. Für Menschen wie ihn eine vollkommen unnötige Maßnahme. Er hielt sich schließlich sogar für unverwundbar, wollte Eindruck auf Freunde machen und sprang von einem Hausdach. Den Sprung überlebte er nicht.

Kann man Schmerz lernen?

Der Junge aus Pakistan hatte zwar keinerlei Schmerzempfinden, aber er hatte sich beigebracht, Schmerz vorzutäuschen. Schmerzempfindung lernen, das können die Betroffenen nicht. "Wenn man das Schmerzempfinden nicht kennt, ist es extrem schwierig, allein schon darüber zu reden. Ich habe immer wieder rausgehört, dass die Patienten gerne einmal wissen würden, wie es ist, Schmerz zu empfinden. Und wenn man selbst versucht, Schmerz irgendwie zu beschreiben, merkt man wie schwierig das ist." Schmerzen kennt eben jeder - fast jeder. Weltweit gibt es etwa 100 Menschen, die nicht in der Lage sind, diese Empfindung nachzuvollziehen. Diese Unfähigkeit zählt zu den so genannte "Seltenen Erkrankungen".

Hautspray Behandlung Brandopfer (Foto: Unfallkrankenhaus Berlin (UKB).
Schmerzunempfindliche Menschen merken nicht, wenn sie sich verbrennenBild: UKB

Narben über Narben

Die meisten Patienten weisen zahlreiche, sehr starke Verletzungen auf und auch entsprechende Narben. Die wiederum werden dann oft zu einem kosmetischen Problem, Narben im Gesicht etwa, die vielleicht durch unbewusstes, zu starkes Kratzen zu einer Wunde geführt haben. Die meisten Patienten haben sich im Laufe ihres Lebens zahlreiche Knochenbrüche zugezogen. Auch die verliefen vollkommen schmerzfrei. "Durch Röntgenuntersuchungen hat man überhaupt erst gesehen: Hier war ein Knochenbruch oder auch eine Fehlstellung von Armen oder Beinen. Erst dann wurde behandelt."

Schnittwunden und blaue Flecken sind noch relativ harmlose Folgen, vor allem bei Kindern. Oft ist es aber schwer herauszufinden, was genau passiert ist. "Ein ganz großes Problem ist, dass den Eltern dann Kindesmisshandlung vorgeworfen wird. Das Kind hat große Verletzungsmuster und niemand kann beschreiben, wie es dazu gekommen ist. Die Eltern stehen unter enormem psychischen Druck", sagt Kurth. Und es dauert oft lange, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt, gerade bei Babys und Kleinkindern. Die schwerwiegenden Formen dieser Erkrankung sind von Geburt an vorhanden. Die Kinder können nur theoretisch lernen, wann und wo sie aufpassen müssen. Erfahrungswerte können sie nicht sammeln. Noch gefährlicher sind Verletzungen und Krankheiten, die von außen gar nicht zu erkennen sind, eine Blinddarmentzündung beispielsweise. Dann kann jede Hilfe zu spät kommen.

Röntgenbild Knochenbruch (Foto: AP Photo/Milwaukee County District Atorney's office).
Brüche werden oft erst beim Röntgen entdecktBild: AP

Erkenntnisse für die Entwicklung von Schmerzmitteln?

Wissenschaftler hoffen, dass die Erforschung der Schmerzunempfindlichkeit auch bei der Entwicklung von Medikamenten hilfreich sein könnte. "Letztlich hat man einen Baustein identifiziert, der offensichtlich ganz entscheidend für die Schmerzwahrnehmung ist. Umgekehrt ist es vorstellbar, dass man dieses Eiweiß-Molekül auch als Ansatz für Medikamente gegen Schmerzen nimmt." Der Weg dorthin sei allerdings noch lang, gibt Kurth zu Bedenken. Man müsse den Mechanismus noch viel besser verstehen lernen. Erst dann könne man überhaupt mit der Suche nach möglichen Medikamenten beginnen.

Schmerzfrei oder empfindungslos?

Temperaturunterschiede können Menschen mit der Erkrankung in gewissem Rahmen wahrnehmen, teilweise werden sie als unangenehm eingestuft. "Zum Teil wird auch leichte Berührung wahrgenommen", sagt Kurth. Aber das Wissen darüber, was gefährlich ist oder sein könnte fehlt eben. "Wenn wir einen Schuh anziehen und laufen, dann merken wir, wenn der Schuh drückt. Vielleicht ist er neu. Wir reagieren dann entsprechend. Personen ohne Schmerzempfinden aber merken es erst, wenn sich schon Blasen gebildet haben. Dinge, über die wir gar nicht nachdenken, stellen diese Menschen vor große Herausforderungen." Daran ändert sich im Laufe ihres Lebens nichts.