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Karakaşoğlu: "Wir brauchen ein neues Bildungsystem"

Greta Hamann6. August 2013

In Deutschland verlassen Schüler mit Migrationshintergrund die Schule doppelt so oft ohne Abschluss wie Deutschstämmige. Welche Gründe das haben kann, erläutert die Bremer Integrationsforscherin Yasemin Karakaşoğlu.

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[40286694] Parteikonvent der SPD Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, parteilos, spricht am 16.06.2013 in Berlin beim Parteikonvent der SPD. Foto: Britta Pedersen
Yasemin Karakasoglu im SPD KomptenzteamBild: picture-alliance/ZB

DW: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund haben in Deutschland statistisch gesehen sehr viel schlechtere Bildungschancen als Deutschstämmige. Was läuft im Bildungssystem der Bundesrepublik schief?

Yasemin Karakaşoğlu: Zunächst einmal muss man differenzieren. Häufig wird gesagt, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund per se im Bildungssystem benachteiligt sind und diese Benachteiligung hätte etwas mit ihren kulturellen Hintergründen zu tun. Es ist aber richtiger zu sagen, dass es bestimmte Gruppen gibt, die besonders stark benachteiligt sind. Es ist nicht der Migrationshintergrund als solcher, der das Problem darstellt, erfolgreich im Bildungssystem zu sein, sondern die Tatsache, dass die Eltern aus sogenannten bildungsfernen Milieus kommen und die Kinder nicht unterstützen können, wie es das System von ihnen erwartet.

Was ist dann das konkrete Problem im deutschen Bildungssystem, warum kann es genau diese Kinder mit diesem sozialen Hintergrund nicht besser fördern?

Wir haben ein hoch selektives Bildungssystem, alle Studien machen das sehr deutlich: Deutschlands Bildungssystem ist sozial ungerecht, weil es sehr stark diejenigen unterstützt, bei denen das soziale und kulturelle Kapital von der Familie her bereits vorhanden ist. Und diejenigen, die eigentlich die Unterstützung des Staates für die Entfaltung ihrer Talente bräuchten, unterstützt das System nicht angemessen. Wir selektieren nach der vierten Klasse und teilen auf verschiedene Schulformen auf. Das ist international extrem exotisch. Die meisten Bildungssysteme weltweit kennen nur eine Schulform, in die alle Kinder gemeinsam gehen und wo dann gegebenenfalls innerhalb der Schule differenziert wird.

Welche Maßnahmen können diese Situation verbessern?

Das können zum Beispiel schulstrukturelle Maßnahmen sein, die Durchlässigkeit im System schaffen. Man versucht also, den Weg zum Abitur so offen wie möglich zu gestalten und sortiert nicht schon nach der vierten Klasse aus.

Dann sollte man beachten, dass wir uns in einer Migrationsgesellschaft befinden. Vor der Schule müsste die sprachliche Bildung in den Blick genommen werden. Man braucht also in den vorschulischen Einrichtungen und im Elementarbereich durchgängig Sprachförderung. So werden die Kinder gut auf die Schule vorbereitet. Die Tatsache, dass ich zu Hause eine andere Sprache spreche als in der Schule oder in der Gesellschaft, macht Sprachförderung während der ganzen Schullaufbahn notwendig.

Sie sind also gegen Maßnahmen, die nur auf die Schüler abzielen, die einen Migrationshintergrund haben?

Genau, das ist eine generelle Forderung, die ich vertrete: eine interkulturelle und soziale Öffnung des Systems, die allen zugute kommt. Wichtig ist aber auch die Lehrerbildung. Damit Lehrerinnen und Lehrer diese Schüler nicht als Sonderfälle betrachten, die schwierig sind und mit denen sie irgendwie umgehen müssen. Sondern, dass sie sich bewusst sind: Das sind unsere Normalfälle. In den deutschen Großstädten machen sie ja sogar die Mehrheit aus. Es ist wichtig, dass die Schule sich auf diesen Normalfall umstellt und nicht, dass man für Kinder, der bisher immer angenommenen Minderheiten, Spezialprogramme fährt.

Sie sagen, dass Mehrsprachigkeit und Multikulturalität mittlerweile der Normalfall sind. Welches Potenzial bedeutet diese Heterogenität für Deutschland?

In der Mehrsprachigkeit der Migranten liegt ein hohes Potenzial, Kindern verschiedene Welten und andere kulturelle Sichtweisen zu öffnen. Außerdem kann man sich gegenseitig kulturell und intellektuell befruchten. Wenn wir klug sind, sollten wir diesen kulturellen Reichtum nicht verlieren.
Die Weltwirtschaft verändert sich relativ dynamisch und Sprachen wie Türkisch oder andere Sprachen können in diesem Prozess auch einen anderen Stellenwert bekommen.

Sie sind selbst Tochter einer Deutschen und eines Türken und haben die Schule größtenteils in Deutschland besucht. Welches Erlebnis ist Ihnen aus dieser Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?

Für mich war meine Mutter immer sehr wichtig. Sie ist Deutsche und deutschsprachig und sie war immer im Hintergrund da, um mich zu unterstützen und zu fördern. Auch, dass einzelne Lehrer das Potenzial in mir gesehen haben war sehr wichtig für mich, obwohl ich in der dritten Klasse nicht richtig auf Deutsch schreiben konnte. Durch ihre Unterstützung und durch Nachhilfe konnte ich es relativ schnell lernen. Mein Erfolg in der Schule war also Ergebnis eines familiären Hintergrundes und der Unterstützung einzelner Lehrerinnen und Lehrer. Das System selber war nicht darauf eingestellt, dass ich als Kind mit anderen Bildungsvoraussetzungen komme.

Außerdem habe ich in meiner Mittelstufenzeit viel Ablehnung meines türkischen Hintergrunds erlebt. Man ist mir mit einer gewissen Feindseligkeit begegnet und hat mich als ausländisches Kind bezeichnet, was in meinem Fall sogar gar nicht richtig ist, da meine Mutter Deutsche ist und ich somit halb und halb bin.

Sie sind eine von wenigen Professorinnen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Glauben Sie, dass sie in 15 Jahren mehr Kolleginnen und Kollegen mit einer ähnlichen Geschichte haben werden?

Man merkt jetzt schon, dass immer mehr promovieren. Außerdem haben wir schon jetzt deutlich mehr Professorinnen und Professoren. Bis vor Kurzem kannte ich noch alle Kollegen, die einen Migrationshintergrund haben und an irgendeiner Hochschule in Deutschland tätig sind, beim Namen. Jetzt ist das nicht mehr so, weil es ganz viele junge Leute gibt, die nachrücken. Ich bin sehr zuversichtlich. Natürlich sind es immer noch eher die Ausnahmen, aber ich kann sie nicht mehr an zwei Händen abzählen, es werden mehr.

Yasemin Karakaşoğlu ist Professorin für Interkulturalität und interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Im Juni 2013 berief SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sie in sein Kompetenzteam für die Bundestagswahl 2013. Dort ist sie für die Wissenschafts- und Bildungspolitik verantwortlich. Karakaşoğlu ist Tochter einer Deutschen und eines Türken. Sie wuchs sowohl in Deutschland als auch zeitweise in der Türkei auf.

Das Interview führte Greta Hamann.