1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Kurden schlagen zurück

Birgit Svensson (z.Zt. Dohuk)20. Dezember 2014

Mit US-Hilfe erobern Peschmerga-Kämpfer das Sindschar-Gebirge zurück. Die verbliebenen Jesiden können sich in Sicherheit bringen. Das Leid der Volksgruppe aber geht weiter, berichtet Birgit Svensson aus Dohuk.

https://p.dw.com/p/1E84E
Kurden drängen IS im Sinjar-Gebirge zurück (Foto: AP)
Bild: picture-alliance/dpa/Zana Ahmed

Die Truppenbewegungen waren nicht zu übersehen. Die ganze Woche über rollten Konvois mit Soldaten, Panzern und Geländewagen durch Dohuk in Richtung Mosul-See. Hier, wo der Tigris gestaut wird, ist die Sammelstelle für die bislang größte Militäroffensive der kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS). Über 8000 kurdische Kämpfer sind daran beteiligt. Kurdenpräsident Masud Barzani persönlich hat das Oberkommando über die Aktion übernommen.

Am Mittwoch starteten die Militärkolonnen in die bereits befreite Stadt Zumar. Von dort aus ging es weiter westwärts ins Sindschar-Gebirge, wo die Peschmerga in den frühen Morgenstunden des Donnerstags ihren Angriff auf die Dschihadisten-Miliz starteten - unterstützt von bislang mehr als 100 Angriffen der US-Luftwaffe. Seit Anfang August kontrollierte und terrorisierte der IS die gesamte Region westlich des Mosul-Sees. Nach der Rückeroberung wichtiger Gebiete können nun mehr als 1000 Jesiden, die sich monatelang in den Bergen vor den IS-Kämpfern versteckt gehalten haben, über einen Korridor via Syrien nach Dohuk in die Flüchtlingslager gebracht werden. Gleichzeitig versuchen die Peschmerga, die zurückeroberten Gebiete dauerhaft zu sichern.

Jesiden klagen die Kurden an

Nareen Shammo ist erleichtert. Seit die Tragödie um Sindschar begonnen hat, ist die 28-jährige Jesidin rund um die Uhr im Einsatz. Ihre Arbeit beim kurdischen Fernsehsender Rudaw hat die Journalistin vorübergehend aufgegeben, um sich ganz dem grausamen Schicksal ihrer Volksgruppe zu widmen. Nie werde sie die Schreie am Telefon vergessen, als am 3. August die Kämpfer des IS über die Jesidenstadt herfielen. "Nareen hilf uns!", hätten verzweifelte Frauen gerufen, und Shammo musste mit anhören, wie Schüsse fielen, Menschen getötet und verschleppt wurden. Über 4000 Verschleppte haben sie und andere Aktivisten namentlich dokumentiert; 4000 Menschen, die durch Nareen Gehör finden: "Ich war die Erste, die unser Schicksal im kurdischen Regionalparlament vorgetragen und die Politiker aufgerüttelt hat."

Porträt der Jesiden-Aktivistin Nareen Shammo (Foto: Wadi)i
Jesiden-Aktivistin Nareen ShammoBild: Wadi
Die Religionen im Nordirak (Karte: DW)

Seitdem beklagt die zierliche Frau die Versäumnisse der kurdischen Peschmerga und der Regionalregierung. Sie hätten die Jesiden im Stich gelassen. Der Rückzug der kurdischen Kämpfer vor den heranrückenden Dschihadisten im August werten Shammo und andere Jesidenvertreter als Verschwörung gegen ihre Volksgruppe.

Die Sorge vor einem Völkermord an den Jesiden zählte zu den Gründen für den Kriegseintritt der USA. Eine Woche nach dem Überfall auf Sindschar ordnete Staatspräsident Barack Obama Luftangriffe gegen die Dschihadisten an. Bereits im Sommer gelang es mit Hilfe syrischer Kurdenkämpfer, einen Großteil der etwa 80.000 Flüchtlinge über die Grenze nach Syrien und in die kurdischen Autonomiegebiete zu bringen. Die meisten von ihnen sind seitdem in der Grenzstadt Zakho und in Dohuk untergebracht.

Dass die kurdischen Peschmerga im August vor den Angreifern gewichen sind, prangern nicht nur die Jesiden an. Auch Tausende Christen, deren Dörfer und Städte ebenfalls vom IS überrollt wurden, können den Rückzug der Kurden nicht nachvollziehen. Peschmerga heißt übersetzt: "Die dem Tod ins Auge Sehenden". Genau das aber haben Tausende von ihnen nicht getan. Angeblich soll es einen Befehl zum Rückzug gegeben haben, der von "ganz oben" kam.

Kurden drängen IS im Sinjar-Gebirge zurück (Foto: Andaolu Agency)
Siegessicher: Dank US-Luftunterstützung feiern die Peschmerga militärische ErfolgeBild: picture-alliance/Emrah Yorulmaz/Anadolu Agency

Jesiden, Christen, Turkmenen, Shabak, Schiiten und Sunniten: Alle flüchteten vor den Truppen des IS, als diese im August ihren zweiten Angriff auf die Kurdenregion starteten. Im Juni fielen sie in einer Blitzaktion von Syrien kommend in den Irak ein und übernahmen weite Teile der Region Mosul und der Provinz Anbar. Zwei Monate später dann versuchten sie ihren inzwischen deklarierten Staat auf die Kurdengebiete auszudehnen. Im Juni desertierten Tausende Soldaten der irakischen Armee und ließen Waffen und Kriegsgerät zurück. Eine willkommene Beute für den IS. Im August dann kapitulierten die Peschmerga-Kämpfer, die auf ihrem Rückzug indes zumindest ihre Ausrüstung mitnahmen.

Vertrauen wieder herstellen

Die aktuelle Gegenoffensive ist daher nicht nur ein militärischer Erfolg, sondern hat wohl auch einen psychologischen Effekt. Gelingt es den Peschmerga-Kräften, nach dem Sindschar-Gebirge auch die Stadt Sindschar zurückzuerobern, dann wäre verlorenes Terrain wieder gewonnen. Es sei vor allem das Vertrauen verloren gegangen, beschreibt Nareen Shammo die Gefühlslage ihrer jesidischen Landsleute. "Wir haben den Kurden vertraut, dass sie uns beschützen - und sie haben uns enttäuscht." Engagiert trägt sie das Leid ihres Volkes vor, wann immer ihr Gelegenheit dazu gegeben wird - und macht besonders auf die Folgen der Verschleppung von jesidischen Frauen durch den IS aufmerksam. "Kürzlich rief mich eine 13-Jährige an, die abhauen konnte und schwanger ist. Was machen wir jetzt mit den Mädchen, die verkauft und verheiratet wurden und jetzt ein Dschihadisten-Kind in sich tragen?" Über 400 Schicksale von Mädchen und jungen Frauen hat Shammo dokumentiert, die fliehen konnten oder frei gekauft wurden. Das Leid der Jesiden geht weiter.

Jesiden in Flüchtlingslager Newroz (Foto: Reuters)
Mit dem Leben davongekommen: Jesiden im Flüchtlingslager NewrozBild: Reuters/M. Mohammed