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Julius Genss, Sammler aus Leidenschaft

Cornelia Rabitz30. Juli 2012

Der Besitzer wurde enteignet, die Schöpfer der Kunstwerke sind vergessen - die Fragmente einer Sammlung jüdischer Grafiken werden jetzt in München gezeigt. Rekonstruktion eines Verlustes.

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Synagoge, Radierung von Isaak Lichtenstein (Foto: Sammlung Julius Genss Courtesy/ Jüdisches Museum München)
Bild: Jüdisches Museum München

Man weiß nicht, wofür Julius Genss mehr geschwärmt hat: Für Bücher oder die Kunst. Seine Bibliothek jedenfalls umfasste schließlich mehr als 10.000 Bände. Sie wurden von ihm erworben, begutachtet, betrachtet, sortiert, systematisiert und mit schön gestalteten Exlibris versehen. Ein Vergnügen, wie der jüdische Sammler immer wieder zu sagen pflegte.

Umtriebiger Intellektueller

Und dennoch war es zuletzt die Kunst, die den Sammler Genss berühmt gemacht hat. 1887 geboren, Spross einer begüterten Kaufmannsfamilie in Tartu, Estland, entdeckte er schon früh seine Leidenschaft für Malerei und Grafik, brach ein Jurastudium ab, um in München Architektur und Kunstgeschichte zu studieren, tummelte sich dort in Ateliers und Museen - ein Intellektueller aus Estland mit einem Faible für die deutsche Kultur. Er reiste auch nach Moskau, lernte die künstlerische Avantgarde kennen. Zurück in der Heimat war er eine Zeit lang Geschäftsmann, hielt aber auch Vorträge an der Tartuer Kunstschule - und sammelte weiter.

Judaica-Sammlung

Julius Genss, Fotografie von 1939 (Foto: Sammlung Julius Genss Courtesy/ Jüdisches Museum München) Sammlung Julius Genss Courtesy: Jüdisches Museum München
Bibliophil und kunstbegeistert: Julius GenssBild: Jüdisches Museum München

Sein Interesse an jüdischer Kunst war unterdessen gewachsen. Auf seinen Reisen besuchte Genss Synagogen und jüdische Museen, erwarb Kataloge und Fachliteratur. Seine Judaica-Sammlung wurde immer größer, 1938/39 organisierte er eine Wanderausstellung, die in Tartu, Tallinn und Riga präsentiert wurde: "Ich wollte die Existenz moderner jüdischer Kunst beweisen", schrieb er später in seinen Memoiren.

Künstler aus Paris, Warschau, Vilnius, sogar aus Israel und der Sowjetunion schickten ihm auf seine Bitte Druckgrafiken und Illustrationen zu. 211 Blätter kamen so zusammen. Ein Ausstellungskatalog wurde herausgegeben - in estnisch und in jiddischer Sprache, damals unter den Juden Osteuropas das gängige Idiom. Marc Chagall und Lyonel Feininger hatten Grafiken beigesteuert, Künstler, die heute weltberühmt sind. Aber die Namen der anderen Beteiligten kennen nur noch wenige. Manche, wie Nathan Altman oder Zygmunt Dobrzycki, haben den Holocaust überlebt. Von anderen, wie Necha Gelbersanska, Julius Kroll, Isaak Schorr konnten Daten nicht ermittelt werden. Fani Lewowna-Frydman wurde in Krakau ermordet, Fiszel Zylberberg in Auschwitz. Und von dem Konvolut sind noch ganze 35 Grafiken vorhanden.

Das Hohelied in einer Pergamentrolle, gestaltet von Julius Genss und Ado Vabbe, 1932 (Foto: Sammlung Julius Genss Courtesy/ Jüdisches Museum München)
Das Hohelied Salomos: Pergamentrolle, gestaltet von Genss und dem Künstler Ado VabbeBild: Jüdisches Museum München

Geraubte Kunst

So wie auch die umfangreiche Bibliothek wurde die Kunstsammlung von Julius Genss nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion 1941 beschädigt, beschlagnahmt, zerstört, in alle Winde verstreut. Verantwortlich dafür war ein Mann, der ebenfalls aus Estland stammte: Alfred Rosenberg und sein "Einsatzstab". Rosenberg war ein Deutsch-Balte und Nationalsozialist der ersten Stunde. Ab 1933 leitete er das Außenpolitische Amt der NSDAP. 1941 wurde er Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, verantwortlich für den Terror gegen Juden und die übrige Zivilbevölkerung, für Ghettoisierung, Zwangsarbeit - und Raub.

Rosenberg organisierte einen groß angelegten Raubzug in den okkupierten Ländern. Sein "Einsatzstab" plünderte Museen, Kunstgalerien, Bibliotheken und Archive. Kistenweise wurde das Diebesgut in Depots abtransportiert, nach Berlin, Bayern, Kärnten oder Schlesien. 1946 wurde Rosenberg in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher verurteilt und gehängt.

Rückgabe, aber keine Restitution

Kopf eines Juden, Holzschnitt von Fiszel Zylberberg, 1937 (Foto: Sammlung Julius Genss Courtesy/ Jüdisches Museum München)
Kopf eines Juden, Holzschnitt von Fiszel Zylberberg, 1937Bild: Jüdisches Museum München

Dass überhaupt etwas davon gerettet werden konnte, verdankte Julius Genss einem Professor aus seiner Heimatstadt Tartu. Tochter Inna Gens-Katanjan erinnert sich im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Paul Ariste hatte im Einsatzstab Rosenberg gearbeitet. Immer wieder klaute er dort etwas und nahm ein Stück der Sammlung meines Vaters mit sich nach Hause. Als wir zurückkamen, war er so nett, sie uns zurückzugeben."

Dass auch einige Bücher den Krieg überstanden hatten, erfuhr die Familie erst Mitte der 1950er Jahre - da aber hatte sich schon wieder eine antisemitische Stimmung ausgebreitet. Das sowjetische Regime diskriminierte und verfolgte Juden wie die Familie Genss. Sohn Leo, Kunsthistoriker und Dozent, bekam Berufsverbot, Julius Genss war kurze Zeit in Haft, seine Frau Bertha beging daraufhin Selbstmord. Klagen auf Rückgabe der Bücher blieben erfolglos.

Kabinett von Julius Genss, Bleistiftzeichnung von Dagmar Bette-Punga, 1938 (Foto: Sammlung Julius Genss Courtesy/ Jüdisches Museum München)
Blick ins Kabinett des Kunstsammlers, gezeichnet von Dagmar Bette-Punga, 1938Bild: Jüdisches Museum München

Fragmente einer Sammlung

1957 ist Julius Genss gestorben. Seine Nachkommen schreiben ihren Namen mit einem "s", eine Transkription, die dem Deutschen näher ist und auch für die russischen Behörden praktikabler war. Enkelin Julia kam 1991 nach Berlin. Im Gepäck hatte sie die Fragmente der zerstörten Sammlung ihres Großvaters. Darunter auch ein besonders wertvolles Stück: eine Schriftrolle mit dem Hohelied Salomos, Anfang der 1930er Jahre von Genss selbst in Hebräisch geschrieben, von seinem Freund, dem estnischen Künstler Ado Vabbe, illustriert. Auch ein Faksimile der Darmstädter Haggada von 1430 war dabei.

Heute wohnt Julia Gens als Kunst-Restauratorin in München. Und dort sind nun auch die geretteten Stücke im Jüdischen Museum ausgestellt. Für ihre Tante, Inna Gens-Katanjan, die hoch betagt in Moskau lebt, ein ganz besonderes Erlebnis: "Mein Vater hat hier in München studiert. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass eine solche Ausstellung in Deutschland organisiert werden kann. Das macht mich natürlich sehr glücklich."