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Perspektivlos in Tschechien

Martin Nejezchleba12. Juli 2013

Lange dachten die Tschechen: Jugendarbeitslosigkeit? Die ist woanders. Nun steigen die Quoten. Die Internationale Arbeitsorganisation warnt bereits vor sozialen Unruhen.

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Junge arbeitslose Tschechen lernen Englisch (Foto: Martin Nejezchleba)
Bild: DW/M. Nejezchleba

Pavel Beer hat schon viel versucht. Der 23-jährige hat ein wirtschaftliches Fachabitur mit Spezialisierung auf Schienenverkehrswesen. Eine Arbeit bei der Bahn gab es für ihn nicht. Der hagere Tscheche mit der Stoppelfrisur ließ sich zum Schweißer umschulen. Erst fand er einen Job. Für einen Monat. Dann ging sein Arbeitgeber Bankrott. Seit zwei Jahren sucht Beer nun Arbeit - vergeblich. "Ständig abgelehnt zu werden, das ist deprimierend", sagt er und lässt die Schultern hängen.

Lange dachte man in Tschechien, man bleibe von der Jugendarbeitslosigkeit verschont. Dem - wie der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy es nennt - "vielleicht dringendsten Problem in der EU". Mit einer Quote von knapp 20 Prozent liegt das Land zwar noch unter dem EU-Durchschnitt, seit der Wirtschaftskrise aber hat sich der Anteil der jungen Tschechen ohne Arbeit verdoppelt. Inzwischen spricht man auch im Prager Arbeitsministerium von einer "drängenden Situation". In ihrem neuesten Bericht zählt die Internationale Arbeitsorganisation ILO Tschechien zu den Ländern, in denen soziale Unruhen drohen - auch wegen der wachsenden Zahl perspektivloser Jugendlicher.

Der gelernte Verkehrswirt Pavel Beer ist 23 und sucht seit zwei Jahren Arbeit (Foto: Martin Nejezchleba)
Pavel Beer: Verkehrswirt, Schweißer, arbeitslosBild: DW/M. Nejezchleba

Absolventen ohne Zukunft

Mit dem postsozialistischen Wandel hat sich auch der tschechische Arbeitsmarkt verändert. "Frische Absolventen hatten lange einen sehr guten Stand", erklärt Filip Pertold, Arbeitsmarktexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts IDEA. Auf Absolventen warteten Stellen in neuen Branchen wie IT oder Rechtsberatung. Seit rund fünf Jahren sind diese Zeiten vorbei.

Filip Pertold ist Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitsmarktexperte im Prager Think Tank IDEA (Foto: Martin Nejezchleba)
Filip Pertold: Die goldenen Zeiten sind vorbeiBild: DW/M. Nejezchleba

Mit der Rezession kam der Einstellungsstopp. Berufseinsteiger trifft das am härtesten. "Dabei müssen die Firmen gar nicht in großer finanzieller Not sein. Es reicht, wenn sie unsicher darüber sind, wie es in Zukunft weiter geht", erklärt Pertold. Die strikte Sparpolitik der vor kurzem abgesetzten Mitte-Rechts-Koalition habe die Unsicherheit befeuert.

Hilfe von der EU

Vor dem Regierungssturz war es noch gelungen, einige Maßnahmen gegen die schwindende Beschäftigung auf den Weg zu bringen. Die werden auch aus EU-Geldern gespeist und entsprechen teils der Linie, die die europäischen Arbeitsminister vor kurzem in Berlin beschlossen haben: Für Unternehmen, die eine Stelle für junge Arbeitssuchende einrichten, gibt es Zuschüsse von bis zu 900 Euro im Monat. Derzeit läuft ein Pilotprojekt an, das Partnerschaften zwischen Fachoberschulen und Unternehmen fördert. Jugendliche sollen dort theoretisch und praktisch ausgebildet werden.

Rufe nach einer grundsätzlichen Reform der Berufs- und Mittelschulen bleiben bislang ungehört. Die Ausbildung ist oft praxisfern und bringt Spezialisten in Fachbereichen hervor, in denen es keine Arbeit gibt - junge Leute wie den Schienenverkehrsfachmann und den Schweißer Pavel Beer.

Viel Hopfen, wenig Arbeit

Im strukturschwachen Nordböhmen, wo auch Beer lebt, ist das besonders problematisch. Mit Hilfe des Projekts "Krok Ke Kariéře" (Schritt zur Karriere) möchte er neue Motivation und eine Arbeit finden. "Der Arbeitsmarkt hier ist wirklich beschränkt", erklärt die Projektmanagerin Irena Blahoutová. "Absolventen mit allgemeiner Ausbildung sprudeln nur so aus den Schulen. Die Firmen aber verlangen praktische Erfahrung, und die hat kaum jemand."

Das nordböhmische Städtchen Žatec ist bekannt für seine Hopfenfelder, für sein Bier und für seine Strukturschwäche. Auf dem Fass steht: „Žatec – die Stadt, in der das Bier zu Hause ist“ (Foto: Martin Nejezchleba)
Žatec: "Die Stadt, in der das Bier zu Hause ist"Bild: DW/M. Nejezchleba

Rund um das Städtchen Žatec gibt es zwar schier unendliche Hopfenfelder, Arbeit aber ist hier rar. Mit ihrem Team versucht Blahoutová, die Jugendlichen für den Kampf um die wenigen Stellen vorzubereiten: in Praktika sollen die Arbeitslosen erste Erfahrung sammeln, in Workshops lernen sie, wie man in Vorstellungsgesprächen überzeugt.

Heute ist Englisch-Unterricht: Der Ton der Lehrerin ist zackig, der Unterricht frontal, das Niveau niedrig. Das sei nötig, erklärt Blahoutová, denn aus den Schulen brächten die jungen Leute kaum Vorwissen mit. Mit dem englischen Imperativ tut sich Beer schwer. Besonders praxisnah wirkt das alles nicht. Erst die Grundlagen, dann berufsspezifische Konversation, erklärt die Lehrerin.

Jenseits der Zuschüsse

Am Ende der insgesamt sechsmonatigen Schulung steht im Idealfall eine Festanstellung. Seit Anfang des Jahres konnten laut Blahoutová drei der Teilnehmer auf freie Stellen vermittelt werden, zwei staatlich bezuschusste Stellen werden gerade vom Ministerium geprüft, zwei konnten bereits geschaffen werden. Eigentlich schult man auf administrative Jobs hin, aber in der Praxis wird alles vermittelt, was greifbar ist.

Kamila Rysová ist Grafikerin und hat mit Hilfe des Umschulungsprojektes „Krok Ke Kariéře“ eine staatliche bezuschusste Stelle gefunden (Foto: Martin Nejezchleba)
Kamila Rysová: Durch Umschulung zur ArbeitBild: DW/M. Nejezchleba

Kamila Rysová ist heilfroh, dass es bei ihr geklappt hat. In einem umgebauten Wohnhaus mit rissiger Fassade sitzt die 24-Jährige vor einem Flachbildschirm. Für eine Grafikagentur gestaltet sie Etiketten und Firmenbroschüren - ihre Stelle wird über Blahoutovás Projekt mit knapp 580 Euro im Monat bezuschusst. Fünf Monate ohne Arbeit möchte Rysová nicht noch mal erleben: "Ich muss lernen, ich stehe ganz am Anfang und glaube nicht, dass ich zu Hause sitzen sollte." Es sind kleine Unternehmen wie die Werbeagentur auf dem Dorfplatz von Dobroměřice, auf die die Arbeitsvermittler in der Region setzen. Rysová lächelt. Sie ist sich sicher: auch wenn die Zuschüsse auslaufen, ihre Stelle bleibt. Nordböhmens Strukturschwäche allerdings auch.