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Jesiden im Irak tödlich bedroht

Kersten Knipp7. August 2014

Die Terrororganisation "Islamischer Staat" rückt immer weiter in den Norden des Irak vor. Dort bedroht sie religiöse Minderheiten, derzeit vor allem die kurdischen Jesiden. Zehntausende sind auf der Flucht.

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Eine jesidische Familie im Irak auf der Flucht, 05.08.2014 (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Ihr Vieh wird getötet, ihre Heiligtümer werden zerstört. Die Menschen selbst versuchen, wenigstens ihr Leben zu retten. Seitdem die Terrororganisation "Islamischer Staat" ("IS", vormals "ISIS") im Irak immer weiter Richtung Norden vordringt, wird die Lage für die dort lebenden Jesiden immer gefährlicher. Bereits am Sonntag (03.08.2014) nahmen die IS-Terroristen die Stadt Sindschar ein. Kurdische Peschmerga-Kämpfer stellten sich ihnen entgegen, konnten die Angreifer aber nicht aufhalten. Inzwischen sollen die Milizen der IS auch Bakhida, die größte christliche Stadt im Irak, eingenommen haben. Ihren Bewohnern droht das gleiche Schicksal wie zuvor schon den Einwohnern von Sindschar.

Unmittelbar nach der Einnahme begannen die IS-Terroristen gegen die Jesiden und andere nicht-sunnitische Gruppen vorzugehen. Nach Angaben des UN-Sicherheitsrats wurden zahlreiche Jesiden entführt oder vertrieben. Weigern sie sich, zum Islam überzutreten, werden sie hingerichtet. Nach Angaben einer Sprecherin der Jesiden wurden 500 Männer der Glaubensgemeinschaft getötet. Insgesamt sind rund 200.000 Jesiden auf der Flucht. Bis zu 30.000 Familien sollen sich ohne Vorräte und Wasser im Sindschar-Gebirge aufhalten. Unter den Flüchtlingen befinden sich nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF auch 25.000 Kinder. Rund 40 seien aufgrund von Nahrungsmangel bereits gestorben.

Die Jesiden sind nicht die einzige religiöse Gruppe, die vor den IS-Terroristen fliehen musste. Bereits im Juni hatten die Dschihadisten die Stadt Mossul erobert und die christlichen Gruppen der Assyrer, Chaldäer und Aramäer vertrieben. Auch Schiiten und muslimische Kurden mussten die Stadt verlassen.

Heimat in vielen Staaten

In ethnischer Hinsicht gehören die Jesiden zu den Kurden. Sie sprechen Kurmandschi, einen der drei Hauptdialekte des Kurdischen. Die Jesiden leben in den großen kurdischen Siedlungsgebieten, die sich auf das Territorium Syriens, Irans, des Irak und der Türkei verteilen. Der größte Teil der weltweit rund 800.000 Jesiden lebt im Irak. Dort verteilen sie sich auf zwei Regionen um die Stadt Mossul. Das religiöse Zentrum der rund 550.000 Jesiden im Irak ist das Lalisch-Tal im Norden des Landes. Dort befindet sich auch das Grab von Scheich Adi Ibn Musafir, ihrem bedeutendsten Heiligen.

Auch in Westeuropa leben zahlreiche Jesiden. Die größte Gemeinde befindet sich in Deutschland. Die Zahl ihrer Mitglieder dort wird allgemein auf 45.000 bis 60.000 geschätzt. Der Zentralrat der Jesiden selbst spricht von etwa 100.000 Angehörigen der Volksgruppe, die in Deutschland leben.

Jesiden flüchten aus Sindschar, 05.08.2014 (Foto: Reuters)
Auf der Flucht: Jesiden verlassen SindscharBild: Reuters

Komplexe Ursprungsgeschichte

Zum Ursprung der jesidischen Religion existieren unterschiedliche Theorien. Die Jesiden selbst sehen ihre Religion als Fortsetzung des antiken altpersischen Mithras-Kults. Religionswissenschaftler sprechen dagegen von einem komplexen Herausbildungsprozess, in dessen Verlauf der Jesidismus sich unterschiedlichsten Traditionen geöffnet und diese aufgenommen habe. So seien auch Elemente des orientalischen Christentums eingeflossen. Auch der Islam könnte den Jesidismus in Teilen beeinflusst haben.

Ein verfolgtes Volk

Wie Judentum, Christentum und Islam ist auch der Jesidismus eine monotheistische Religion. Theologisch zeichnet er sich dadurch aus, dass er neben dem einen Gott keine weiteren Kräfte, vor allem nicht die des Bösen, kennt. Eine dem Teufel entsprechende Figur existiert nicht.

Anders als die drei großen monotheistischen Religionen kennt der Jesidismus auch keine verbindliche religiöse Schrift. Religiöse Traditionen werden überwiegend mündlich überliefert. Darum gilt er auch nicht als "Buchreligion". Unter der Herrschaft der Osmanen waren die Jesiden darum nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Sie genossen auch nicht die sozialen Rechte, die Christen und Juden zugestanden wurden. Sie galten als "Teufelsanbeter" und mussten zahlreiche islamische Missionierungsversuche über sich ergehen lassen. Im späten 19. Jahrhundert kam es zu mehreren Massakern an Christen und Jesiden. Tausende Menschen fielen ihnen zum Opfer.

Lalisch, das Heiligtum der Jesiden (Foto: DW)
Lalisch, das Heiligtum der JesidenBild: DW/Al-Schalan

Auch die jüngsten Angriffe durch die Dschihadisten führt Telim Tolan, Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, auf religiösen Fanatismus zurück. Der Jesidismus habe eine ganz eigene Theologie, die sich von der islamischen sehr stark unterscheide, so Tolan im Gespräch mit der DW. Die Dschihadisten würden die Jesiden nicht als rechtmäßige Religionsgemeinschaft anerkennen. "Die Terroristen meinen, dass die Jesiden zwangsbekehrt oder getötet werden müssen, wenn sie sich nicht der rechtmäßigen Religion anschließen."

Ruf nach internationaler Hilfe

Auch am Mittwoch (06.08.2014) setzten die IS-Terroristen ihre Angriffe auf religiöse Minderheiten fort. Patriarch Louis Raphael I. Sako, das Oberhaupt der katholischen Kirche im Irak, sagte dem Sender Radio Vatikan, in Sindschar seien 70 Angehörige der Jesiden getötet worden.

Ein IS-Kämpfer bei Mossul, 23.6.2014 (Foto: Reuters)
Terror im Namen Gottes: Ein IS-Kämpfer bei MossulBild: Reuters

Sako forderte die internationale Gemeinschaft auf, "Druck auf diejenigen Länder auszuüben, die diese terroristischen oder extremistischen Gruppen finanzieren". Zugleich sollten islamische Autoritäten gedrängt werden, Angriffe auf Christen und andere Nichtmuslime zu verurteilen. "Auf menschlicher Ebene sind wir eine Familie", so Sako.

Der Zentralrat der Jesiden in Deutschland bat die Vereinten Nationen und die Bundesregierung, die nötigen Voraussetzungen für humanitäre Hilfe zu schaffen. Anschließend, so der Zentralratsvorsitzende Telim Tolan im DW-Interview, müssten UN-Schutztruppen in das Krisengebiet entsandt werden. "Die Streitkräfte vor Ort haben das Gebiet Sindschar nicht mehr im Griff. Der 'Islamische Staat' beherrscht das Gebiet."

Die Terrorgruppe "Islamischer Staat" ist im Irak weiter auf dem Vormarsch. Wenn sie nicht aufgehalten wird, dann ist die Existenz der religiösen Minderheiten im Land in Gefahr.