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Jerusalem und der religiöse Wahn

Ulrike Schleicher29. März 2013

Das Jerusalem-Syndrom ist einzigartig: Gesunde Menschen verfallen urplötzlich religiösen Wahnvorstellungen. Nun scheint es zu verschwinden. Schuld daran ist das Internet, sagt der Psychiater Gregory Katz.

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Osterfeierlichkeiten 2012 in Jerusalem (Foto: REUTERS/Darren Whiteside)
Osterfeierlichkeiten 2012 in JerusalemBild: Reuters

Kurz vor der Jahrtausendwende 1999 gründete der israelische Geheimdienst Mossad die Einsatztruppe "Wandeln auf dem Wasser". Sie sollte Jerusalem vor Attentaten und Selbstmorden bewahren. Im Visier waren nicht etwa die üblichen Terroristen - sondern einzelne christliche Fanatiker sowie Mitglieder von militanten, christlichen Sekten. Dazu gehörten etwa 14 Vertreter der "Betroffenen Christen" aus Denver in den USA, die zu jener Zeit in Erwartung der Apokalypse und der Rückkehr des Messias einen Anschlag auf die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg planten. Sie wurden verhaftet und des Landes verwiesen.

Andere blieben. Darunter Menschen, die sich in weiße Tuniken hüllten, laut singend und betend zu den heiligen Stätten pilgerten, und die sich Petrus, Paulus, König Salomo, die Mutter Gottes und sogar Jesus Christus nannten: Menschen, die vom Jerusalem-Syndrom befallen waren.

"Die Behörden, die Polizei, wir alle waren in Alarmstimmung", erinnert sich der Leiter der Bezirksklinik Kfar Shaul für Psychiatrie in Jerusalem, Gregory Katz. Sein Kollege und damaliger Chef der Klinik, Jair Bar-El, befürchtete, dass von den etwa 4 Millionen im Jahr 2000 in Jerusalem erwarteten Touristen rund 40.000 von der mentalen Störung befallen werden würden. So schlimm kam es aber nicht.

Blick auf den Oelberg im Hintergrund und die graue Kuppel der Al-Aksa-Moschee links. Aufgrund ihrer vielen Kultstätten verfielen viele in der Vergangenheit einer mentalen Stoerung: dem Jerusalem -Syndrom. (Foto: Ulrike Schleicher)
Religiös aufgeladene Atmosphäre: Blick auf den Ölberg im Hintergrund und die graue Kuppel der Al-Aksa-MoscheeBild: Ulrike Schleicher

Rückgang seit rund zehn Jahren

Im Gegenteil: Seit rund zehn Jahren nimmt die Zahl der Erkrankten immer weiter ab. Nicht einmal die Osterzeit taugt mehr für die Statistik. "Der letzte 'Jesus', dem ich die Hand geschüttelt habe, ist schon lange her", sagt Katz, der die Notaufnahme in Kfar Shaul leitet. Das sei zuerst natürlich eine gute Nachricht, fügt er an. Für die Erforschung des Syndroms bedeute diese Entwicklung allerdings das Ende.

Dr. Gregory Katz, Leiter der Notaufnahme in der Bezieksklinik fuer Psychiatrie Kfar Shaul in Jerusalem. (Foto: Ulrike Schleicher)
Dr. Gregory KatzBild: Ulrike Schleicher

1979 beschrieb Jair Bar-El zum ersten Mal die Symptome dieser mentalen Störung. Er teilte die Erkrankten in drei Typen ein: Typ I sind solche, die schon medizinisch vorbelastet sind, etwa an Schizophrenie leiden. Typ II sind Menschen, die für psychische Krankheiten anfällig sind und bereits mit einer fixen Idee nach Jerusalem reisen. Und schließlich Typ III. "Das sind diejenigen, die als gesund gelten, befallen werden und nach rund sechs Tagen Behandlung völlig normal in ihre Welt zurück kehren." Allen gemein ist: Sie kommen aus westlichen Industrieländern, sind oft männlich, Single, haben einen niedrigen Bildungsstand und sind streng protestantisch erzogen.

Das Internet zerstört die Phantasie

Typ III hat die Wissenschaftler in ihren Bann gezogen. "Es geht darum herauszufinden, wie bewusst ihnen ihre Wahnvorstellungen sind." Denn völlig den Verstand verliere keiner. Sie seien ansprechbar und wüssten ihren Namen. Das Problem: Keiner von ihnen sei nach der Behandlung bereit, Fragen zu beantworten. "Sie schämen sich und wollen nicht an ihren Aussetzer erinnert werden." Nun, da die Fälle weniger werden, besteht auch immer weniger Aussicht auf eine abschließende Studie, bedauert Katz. "Das ist schon frustrierend."

Ursache des Rückgangs des Syndroms sei das Internet. Es habe ganze Gesellschaften verändert. "Es beeinflusst, unsere Art zu kommunizieren. Und es beeinflusst unsere Gefühle", sagt er. Aber eben darum geht es beim Jerusalem-Syndrom. Viele der Erkrankten stammten aus geradezu bigotten Familien, denen beim täglichen Gebet jede Spiritualität abgehe. "Regungen werden unterdrückt." Für diese Menschen war ein Besuch in Jerusalem die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. "In ihren Köpfen entstanden ganz eigene Bilder und Vorstellungen von den heiligen Stätten, von der religiösen Atmosphäre."

Souvenir Ikonen in Jerusalem (Foto: ddp images/AP Photo/Kevin Frayer)
Souvenir Ikonen in JerusalemBild: AP

Gleichzeitig gab es weniger Informationsquellen, die diese Vorstellungen hätten zurechtrücken können. Wenn sie dann schließlich in der Stadt ankamen und entdeckten, wie groß die Lücke zwischen der himmlischen Stadt aus der Bibel und der so irdischen in Israel ist, löste dies eine Art Schock aus: Sie erkrankten am Syndrom, manche wurden deshalb sogar zur Gefahr für die Öffentlichkeit. "Heute aber weiß jeder alles schon vorher aus dem Internet", sagt er. Es gebe so gut wie keine Überraschungen mehr: Der Schock bleibt aus.

Jesus im Schottenrock

Dennoch ist Katz überzeugt, dass es noch Fälle gibt. Nur, er trifft sie nicht mehr. "Sie werden meist von den christlichen Gemeinden, den Pfarrern betreut." Sein Vorschlag lautet deshalb, dass die evangelische Kirche selbst eine Studie in Auftrag gibt. 

"Interessant wäre das schon", sagt der evangelische Pfarrer Michael Wohlrab, der ab und an noch von "Auserwählten" besucht wird. Er betreut das Viktoria-Auguste-Begegnungszentrum am Ölberg. Regelmäßig landet dort ein Mann aus Sachsen: "Er hat lange Haare, Sandalen, trägt einen Schottenrock und sagt, er sei Jesus." Und manchmal behaupte er auch, der Mossad höre die Gespräche zwischen ihm und dem Pfarrer ab. In diesen Augenblicken, räumt Wohlrab ein, habe er immer das Gefühl, er "befinde sich in Jerusalem zwischen Dichtung und Wahrheit".