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Jagd am Todesstreifen

Karin Jäger10. Oktober 2013

Die innerdeutsche Grenze hat nicht nur die Menschen verändert, sondern auch die Tier- und Pflanzenwelt. Hier leben seltene Arten. Doch manche Tiere scheuen den ehemaligen Todesstreifen bis heute.

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Blick auf den ehemaligen "Todesstreifen" an der früheren innerdeutschen Grenze in der Nähe von Mödlareuth - Foto: Jan-Peter Kasper (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Die innerdeutsche Grenze war bis 1989 schier unüberwindbar. Hunderte Menschen starben auf der Flucht an der Berliner Mauer, an mit doppeltem Stacheldraht umhüllten Streckmetallgitterzäunen oder im Kugelhagel der DDR-Selbstschussanlagen entlang der deutsch-deutschen Grenze. Wie viele Tiere beim Versuch umkamen, vom einen Deutschland ins andere zu wechseln, ist nicht bekannt. “Wild kam keins durch“, erinnert sich Lothar Bauer, der seit 1976 einen Jagdschein hat und früher in der DDR als Grenzsoldat im Einsatz war.

Klaus Staltmair (li.) aus Oberfranken und Lothar Bauer aus Thüringen - Foto: Karin Jäger (DW)
Jagdfreunde Klaus Staltmair (l.) und Lothar Bauer: Getrennt durch den TodesstreifenBild: DW/K. Jäger

Mufflons, europäische Urschafe, leben im Thüringer Wald. Doch ins nahe Bayern trauen sie sich bis heute nicht. Der ehemalige Todesstreifen stellt für die Tiere immer noch eine unüberwindbare Grenze dar: "Obwohl die Sperranlagen längst abmontiert, die Minen entfernt wurden, "dreht das Muffelwild noch immer instinktiv 300 Meter vor dem alten Grenzstreifen um", hat Bauer beobachtet. Doch andere Tier- und Pflanzenarten fühlen sich hier besonders wohl.

Einmaliges Biosphärenreservat entlang der innerdeutschen Grenze

Bis zur Wiedervereinigung 1990 fanden Flora und Fauna in dem fünf Kilometer breiten Sperrgebiet jenseits der Grenzanlagen ein unberührtes Refugium. Der 1400 Kilometer lange Grüngürtel wurde nach der Wende zum Naturschutzprojekt "Das Grüne Band Deutschland" erklärt. Experten fanden dort 5200 Tier- und Pflanzenarten - einige davon galten als ausgestorben. Lothar Bauer gehörte zu den wenigen DDR-Bürgern, die hier an der Grenze jagen durften.

Dabei sollte die Jagd nach dem Willen der Führung in Ostberlin in der Deutschen Demokratischen Republik eigentlich Volkssport sein. Doch über die Mitgliedschaft in einer zivilen Jagdgesellschaft entschied die "persönliche politische Eignung", die vom Regime überprüft wurde.

Alle Jäger sind gleich, manche sind gleicher

Erich Honecker auf der Jagd (1976) - Foto (dpa)
Jäger Honecker (r., 1976): Kein Problem, auf die Pirsch zu gehenBild: picture-alliance/dpa

Für ranghohe Parteisekretäre war es kein Problem, auf die Pirsch zu gehen - in abgesperrten Revieren im Hinterland, wo extra Wild zu diesem Zwecke ausgesetzt wurde. Allein der zum Ende der DDR errichtete Jagdsitz für den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Mecklenburg-Vorpommern wurde mit 40 Millionen DDR-Mark beziffert. Die stattlichsten Tiere wurden vor die Flinten von Honecker und Co. getrieben. Wenn die trotzdem selbst nichts schossen, konnten sie sich aus dem volkseigenen Vorrat bedienen.

Klaus Staltmair jagte auf bayerischer, also westdeutscher Seite. Sein Revier grenzte direkt an das Gebiet von Lothar Bauer - getrennt durch den Todesstreifen. Kontakt hatten die beiden Jäger aus West und Ost deshalb nie. "Unsere Karten reichten bis an die Grenze, darüber hinaus war alles unkenntlich", erinnert sich Staltmair. Er durfte bis auf wenige Meter an die Grenze ran, nur mit dem Gewehr nicht in Richtung Grenzzaun zielen.

Bauer hatte auf östlicher Seite die Erlaubnis, sich im Sperrgebiet zu bewegen, jener Sperrzone, die sich fünf Kilometer von der Grenze bis ins Hinterland ausdehnte. Als NVA-Angehöriger war er sogar befugt, sich unmittelbar in dem zehn Meter breiten Bereich am Grenzzaun aufzuhalten, dem Todesstreifen.

DDR-Bürger Lothar Bauer - Foto: privat
DDR-Bürger Lothar Bauer: Erlaubnis zur Jagd im SperrgebietBild: privat

Er galt zwar als systemtreuer Genosse, ein eigenes Jagdgewehr, wie bei westdeutschen Weidmännern üblich, durfte er damals jedoch nicht haben. Zu gefährlich schien es der politischen Führung in Ostberlin, dass potenzielle Republikflüchtlinge sich den Weg hätten freischießen können. Für die Jagd mussten die Weidmänner die Waffe bei lokalen Polizeidienststellen ausleihen und sie spätestens nach 72 Stunden zurück geben.

Alles, was Lothar Bauer und seine Weidgenossen damals erlegten, mussten sie abgeben. "Das Wildbrett wurde vom staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb vereinnahmt", erinnert er sich. Einmal hatte er mit einem Jagdgenossen in der Nacht zwölf Wildschweine geschossen. Die musste er dann in seinem Kleinwagen ins Wildkühlhaus transportieren. Viermal sei er hin- und hergefahren.

Die Jagdbeute wurde dann gegen harte Devisen ins Ausland verkauft. Das Fleisch aus ostdeutschen Landen wurde auch in Gourmet-Küchen Frankreichs verarbeitet. Die Schützen erhielten immerhin einen 20-prozentigen Anteil, allerdings nur auf dem Papier. Der Beitrag wurde der Jagdgesellschaft gutgeschrieben, die dann mit dem Geld Gemeinschaftsabende veranstalten durften.

Innerdeutsche Grenze (1988) bei Helmstedt - Foto: Horst Galuschka (Imago)
Innerdeutsche Grenze (1988): Schier unüberwindbarBild: imago/Horst Galuschka

Wer eine Keule für den Eigengebrauch haben wollte, durfte sie aber zurückkaufen. "Dementsprechend viele Freunde hatte man damals. Daran hat sich bis heute nichts geändert", scherzt Bauer. "Im Westen war und ist es nicht anders", stimmt Staltmair zu.

Wildwechsel von Ost nach West

Seit Langem sind die Zäune abgebaut, die Minen entfernt, der Weg theoretisch frei für Hirsche, Rehe, Hasen und Wildschweine. Doch Staltmair bekommt 24 Jahre nach der Wende noch immer keine kapitalen Hirsche vor Fernglas und Flinte: "Rotwild, das man in Thüringen findet, kommt bei uns in Bayern nicht vor", sagt der Weidmann. Denn in Thüringen gibt es größere Waldflächen, in denen sich die scheuen Waldbewohner zurückziehen können. Andererseits hat die Wildschweinpopulation seit der Grenzöffnung auf bayerischer Seite stark zugenommen, hat Staltmair festgestellt.

Wildschweine seien einerseits sehr anpassungsfähig. Andererseits vermutet der Oberfranke, dass sich die Tiere in den riesigen Maisfeldern vermehren, die es auf ostdeutscher Seite immer noch gibt. Die Äcker sind Überbleibsel des DDR-Agrarsystems. Dort gab es keine privaten Bauernhöfe, sondern staatliche Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), die gemeinschaftlich nach sowjetischem Vorbild riesige Felder bewirtschafteten. Von dort erobern die Wildschweine nun den Westen.

Schneller als die Wildtiere haben die beiden Jäger aus Ost und West zueinandergefunden - gleich nach der Wende. Klaus Staltmair erinnert sich noch, welche bedeutungsschweren Worte Lothar Bauer bei der ersten gemeinsamen Treibjagd wählte: "Hiermit erkläre ich die Staatsjagd der DDR für beendet."