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"Israel ist eine gespaltene Gesellschaft"

Kersten Knipp2. März 2015

Kerstin Müller von der Böll-Stiftung in Tel Aviv sieht in den Parlamentswahlen am 17. März auch eine Abstimmung über Israels Selbstverständnis. Diese werde innen- und außenpolitisch weitreichende Konsequenzen haben.

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Wahlkampfplakate in Israel (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images/MENAHEM KAHANA

Deutsche Welle: Frau Müller, der israelische Premier Benjamin Netanjahu hält sich derzeit in den USA auf. Er wird unter anderem auch vor dem US-Kongress sprechen. Eines der Themen wird der mögliche Atom-Kompromiss mit dem Iran sein, vor dem Netanjahu warnt. Kritiker in Israel sehen diese Reise im Zusammenhang mit den israelischen Parlamentswahlen am 17. März. Netanjahu wolle durch die Reise Stimmung für sich machen. Wie nehmen Sie die Diskussion wahr?

Kerstin Müller: Die Reise wird unterschiedlich gedeutet. Das Mitte-Links-Lager geht davon aus, dass das eine Reise im Rahmen des Wahlkampfes ist. Ich selbst tendiere ebenfalls zu dieser Einschätzung. Die eher rechte, konservative Presse ist allerdings der Auffassung, dass es hier um einen historischen Auftritt gehe, der nichts mit dem Wahlkampf zu tun habe. Im Gegenteil: Es werden sogar Vergleiche zu München 1938 gezogen. In anderen Worten: Auch jetzt begehe die Weltgemeinschaft, wenn sie sich mit dem Iran hinsichtlich seines Atomprogramms auf einen Kompromiss einlasse, einen gewaltigen Fehler. Da dieser Konflikt vor allem zu Lasten Israels gehe, müsse das Land alles tun, um diesen Kompromiss zu verhindern. Netanjahu stellt es so dar, als leiste er durch seine Reise einen ganz wichtigen Beitrag zur Sicherheit Israels.

Netanjahu greift immer wieder auch die Politik gegenüber den Palästinensern auf. Auch die steht im Kontext von Sicherheitsdebatten. Welche Rolle spielt das Thema "Sicherheit" generell im Wahlkampf?

In der öffentlichen Debatte spielt es keine so große Rolle. Aber alle Umfragen der letzten Jahre bestätigen, dass Sicherheit insbesondere für die Mitte der Gesellschaft das wahlentscheidende Thema ist. Da man auf diesem Feld dem Likud-Block, also dem rechten Parteienspektrum, mehr zutraut, hat der Likud unter Netanjahus Führung in den letzten Jahren immer wieder die Wahlen gewonnen. Darum ist Netanjahu meiner Einschätzung nach nun auch in die USA gereist. Womöglich hofft er dadurch auf Stimmen von Mitte-Rechts. Die wird er brauchen können, denn es stehen sich ja nun zwei große Koalitionen gegenüber: auf der einen Seite der von Netanjahu geführte Likud-Block. Und auf der anderen das neue "Zionist Camp", ein Mitte-Links-Bündnis aus der Labour-Partei und der Partei von Tzipi Livni.

Kerstin Müller (Foto: dpa)
Kerstin Müller, Leiterin der Tel Aviv-Büros der Heinrich-Böll-StiftungBild: picture-alliance/dpa/K. Franke

Derzeit findet in Israel eine Debatte um die nationale Identität des Landes statt. Ein national-jüdisches Selbstverständnis steht einem zionistisch-demokratischem gegenüber. Welche Rolle spielt diese Diskussion?

Im Hinblick auf diese Debatte dürfte die Wahl von entscheidender Bedeutung sein. In der vergangenen Legislaturperiode wollte die israelische Rechte zum ersten Mal in der Geschichte des Landes gesetzlich festschreiben, wie der jüdische Charakter des Staates Israel auszusehen hat. Im Likud und vor allem in der Partei von Naftali Bennett sind viele gar nicht mehr bereit, an der Zwei-Staaten-Lösung festzuhalten und den Palästinensern einen eigenen Staat zuzugestehen. Man betrachtet die Region als religiöses, von Gott gegebenes Land: Eretz Israel. Darum ist die kommende Wahl nach Einschätzung israelischer Kommentatoren von größter Bedeutung: Wird sich das Land weiter demokratisch definieren, und zwar unter Wahrung der Rechte der palästinensischen Bevölkerung Israels und auch des Entschlusses, den Palästinensern einen eigenen Staat zu gewähren? Oder behauptet man aus national-religiöser Perspektive, dass das ganze Terrain zu Israel gehört? Das hätte dann die Perspektive, dass es erst einmal keine Friedensgespräche mehr gäbe.

In Israel haben die religiösen Kräfte Aufschwung bekommen. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung?

Da haben mehrere Faktoren eine Rolle gespielt. Zunächst einmal gibt es einen generellen Zuwachs der orthodoxen religiösen Gemeinschaften in Israel. Diese Entwicklung strahlt in die gesamte israelische Gesellschaft aus. Hinzu kommen die Zuwanderer aus Russland, die überwiegend ausgesprochen konservativ sind. Das wirkt sich auch auf die Politik aus. So spricht man in Regierungsdokumenten im Hinblick auf das Westjordanland seit über zehn Jahren von Judäa und Samaria. Bei den letzten Wahlen ist die von Naftali Bennett geleitete Siedler-Partei ins Parlament eingezogen. Und die hat – anders als der Likud - ganz offen und deutlich erklärt, sie wolle keine Zwei-Staaten-Lösung mehr; stattdessen spricht sie davon, das Westjordanland zu annektieren. Damit liegt ein nationalreligiöses, nicht-demokratisches Modell auf dem Tisch. Und das wird natürlich auch für die internationale Politik Konsequenzen haben. Insofern sind die Wahlen innen- wie außenpolitisch entscheidend.

Wie wirkt sich diese Diskussion denn nach innen, auf die israelische Gesellschaft selbst aus?

Israel ist eine sehr gespaltene Gesellschaft. Die Ultraorthodoxen leben völlig abgekapselt. Auch die Nationalreligiösen stellen eine eigene Welt dar. Auf der anderen Seit steht die säkulare Welt, die man in Tel Aviv, vielleicht auch noch Haifa, findet. Diese verschiedenen Milieus haben kaum Kontakt zueinander, weshalb die Gesellschaft immer weiter auseinander fällt. Zugleich gibt es auch kaum mehr einen gemeinsamen politischen Nenner. Im Grunde wäre in Israel selbst erst einmal eine tiefgehende Debatte darüber nötig, was unter dem jüdischen Charakter des Staates zu verstehen ist.

Kerstin Müller ist Direktorin des Tel Aviver Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Von 1994 bis 2002 war sie Sprecherin bzw. Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Von 2002 bis 2005 war sie Staatsministerin im Auswärtigen Amt.