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Integration statt Gettoisierung

Katerina Blaževska16. Dezember 2013

Ein Großteil der Roma in Mazedonien ist arbeitslos, viele von ihnen erhalten Sozialhilfe. Doch im Bereich Bildung sehen die Behörden Fortschritte. Botschafterin der Integration ist eine Sängerin mit Weltruhm.

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Spielende Kinder in einer Hofecke (Foto: DW/K. Blazevska)
Bild: DW/K. Blazevska

Im Vergleich zu vielen anderen Ländern in Südosteuropa setzt sich Mazedonien stärker für die Integration von Roma in die Gesellschaft ein. Es gibt einen Roma-Minister in der Regierung, einen Abgeordneten im Parlament, und sie stellen den Bürgermeister in Šuto Orizari, einem Stadtteil der Hauptstadt Skopje und zugleich die größte Romasiedlung Europas. Außerdem arbeiten Roma als Berater der Lokalbehörden, und mehrere Geschäftsführer der staatlichen Behörden sind Roma. Seit Jahren herrscht in der mazedonischen Politik Konsens, dass die Roma auf allen Ebenen der Verwaltung vertreten sein sollen. Also alles bestens?

Nezdet Mustafa ist seit 2008 Roma-Minister. Er ist zumindest zufrieden. Er ist auch Koordinator der Nationalen Strategie der Europäischen Dekade zur Inklusion der Roma (2005-2015). Dabei geht es um die Verbesserung der Situation der Roma in vier Bereichen – Wohnen, Gesundheitswesen, Arbeitsleben und Bildung. Und auch hier sieht Mustafa Fortschritte: "Viel ist schon erreicht", stellt er fest und fügt hinzu: "Die Haushaltsmittel wachsen stetig." Dennoch bleibe viel zu tun, "insbesondere bei der Überwindung von Armut und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit."

Andere Wahrnehmung

"Die Politiker behaupten, sie hätten für uns viel getan", sagt die 67-jährige Irfana Bekirova aus Šuto Orizari, "wir sehen das aber nicht. Es gibt keine Arbeit."

Irfana Bekirova (Foto: DW/K. Blazevska)
Irfana Bekirova ist unzufrieden mit der Arbeit der PolitikerBild: DW/K. Blazevska

Die Arbeitslosenquote in Mazedonien liegt bei 30 Prozent, bei den Roma erreicht sie fast 90 Prozent. Auch bei der Sozialhilfe sind 90 Prozent der Empfänger Roma. Der monatliche Durchschnittslohn in Mazedonien beträgt umgerechnet rund 350 Euro. Als Sozialhilfe wird etwa 37 Euro pro Monat für eine Person ausgezahlt, höchstens 90 Euro für Familien mit fünf und mehr Personen. Das reicht kaum zum Überleben, und nach drei Jahren wird diese Summe weiter gekürzt.

Auch die 61-jährige Gemüseverkäuferin Anika Ljatif kämpft jeden Tag gegen die Armut – sie bietet ihre Ware auf dem Markt von Šuto Orizari an. "Ich arbeite den ganzen Tag und verdiene 300 Denar (ca. 5 Euro), ich habe keine andere Wahl. Die Sozialhilfe reicht hinten und vorne nicht." Viele Arbeitslose versuchen, ihre staatliche Unterstützung mit dem Verkauf von Alteisen, Plastik oder Papier aufzubessern.

Anika Ljatif (Foto: DW/K. Blazevska)
Anika Ljatif: "Sozialhilfe reicht nicht"Bild: DW/K. Blazevska

Einer Volkszählung aus dem Jahr 2002 zufolge leben in Mazedonien knapp 55.000 Roma, das entspricht etwa 2,6 Prozent der Bevölkerung. Einige Nichtregierungsorganisationen sind allerdings davon überzeugt, dass ihre Zahl deutlich höher ist - so schätzt die NGO "Ambrela" aus Skopje die Zahl der Roma auf 150.000. Allein in Šuto Orizari sollen etwa 50.000 Roma leben. Zu den unterschiedlichen Einschätzungen kommt es, weil viele Roma nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes 1991 nicht in der Bevölkerungsstatistik erfasst wurden und keine Staatsbürgerschaft haben. Zahlreiche Roma besitzen keine persönlichen Dokumente, und es fehlt ihnen das Geld, solche zu beantragen. Und wenn die Eltern keine eigenen Urkunden haben, können sie auch ihre Kinder nicht anmelden.

Vater Staat und "Mutter Esma"

Die Lebensbedingungen der Roma im ganzen Land sind ähnlich - sie leben in gettoartigen Milieus. In Šuto Orizari beispielsweise gibt es kein Kanalisationssystem, die Versorgung mit Wasser ist in höher gelegenen Häusern eingeschränkt, und die Unterkünfte am Rande dieses Stadtviertels sind nur teilweise ans Stromnetz angeschlossen.

Zwei Männer mit Pferdefuhrwerken (Foto: DW/K. Blazevska)
Suto Orizari - hier gibt es keine Kanalisation und schlechte Strom- und WasserversorgungBild: DW/K. Blazevska

Hier ist auch Esma Redžepova zu Hause. Als "Königin der Roma-Musik" brachte sie es zu Weltruhm. Sie engagiert sich aber auch in der Roma-Community. Und sie berät die kommunalen Behörden in der Hauptstadt. "Ich bin Vizepräsidentin der Roma-Weltorganisation (IRU). Auf den Kongressen sagen alle zu mir: 'Glücklich seid ihr Roma in Mazedonien'. Das ist wahr. Nur in Mazedonien sind die Roma in der Verfassung als Volksgruppe anerkannt. Unser Modell sollten auch andere Länder übernehmen", sagt Redžepova. In ihrem Viertel wird sie auch "Mutter Esma" genannt, da sie sich um 47 Adoptivkinder kümmert. Inzwischen hat sie 123 Enkelkinder und drei Urenkelkinder. Die meisten besuchen eine Schule, einige haben einen Hochschulabschluss.

Die Behörden sowie die Nichtregierungsorganisation "Ambrela" sind davon überzeugt, dass der größte Integrationsfortschritt der Roma im Bereich der Ausbildung erzielt wurde. Nach Angaben des mazedonischen Bildungsministeriums wächst die Zahl der Roma ständig, die die mittlere Reife erreicht haben. So seien im Schuljahr 2005/06 noch 1240 Roma-Jugendliche auf eine weiterführende Schule versetzt worden, fünf Jahre später sei diese Zahl auf 1954 gestiegen. Das entspreche knapp zehn Prozent der Neuzugänge auf weiterführenden Schulen. Davor Politov, Sprecher des Bildungsministeriums, fügt hinzu, dass über 90 Prozent der Roma-Kinder die weiterführende Schule auch beenden und das Abitur machen.

Ein Projekt, Roma in das Bildungssystem zu integrieren, heißt "Inklusion in der vorschulischen Ausbildung". Seit sieben Jahren bekommen die Roma-Kinder in zahlreichen Gemeinden kostenlos Schulbücher zur Verfügung gestellt und werden durch Schulstipendien unterstützt. Zurzeit werden mit dem Projekt über 1000 Kinder unterstützt.

Hilfe aus dem Ausland ist wichtig

Trotz all dieser Bemühungen werden auch in Mazedonien Roma im Alltag benachteiligt. Die Zahl der Beschwerden steige stetig, sagt Duško Minovski, Vorsitzender der Kommission zum Schutz vor Diskriminierung. Das Spektrum reicht von der Weigerung einer Badeanstalt in der Hauptstadt Skopje, Roma-Kindern Zutritt zum Schwimmbecken zu erlauben, bis hin zu Beschwerden über ein Lehrbuch, in dem Roma abwertend als "Zigeuner" bezeichnet werden.

Ljatife Sikovska (Foto: DW)
Ljatife Sikovska Chefin der NGO "Ambrela" in SkopjeBild: DW

Um die Roma in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, geht es nach wie vor nicht ohne den Einsatz von Nichtregierungsorganisationen. "Dabei", so Ljatife Sikovska, Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation "Ambrela", "ist Hilfe aus dem Ausland sehr wichtig." Manchmal würden zwar die Gelder in den hierarchischen Netzen von Beratern und Experten verschwinden, klagt Sikovska, aber "wir arbeiten auch mit dem Bruchteil, der uns bleibt."