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Behinderte Schüler in Pakistan

Rachel Yasmin Baig18. Mai 2012

Als eine "Strafe Gottes" fühlen sich viele behinderte Kinder in Pakistan. Aus Angst vor Anfeindungen trauen sie sich kaum aus dem Haus und besuchen nur selten die Schule. Eine Hilfsorganisation will das ändern.

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Schulkinder mit Behinderungen im Schulunterricht in Pakistan (Foto: DW/Rachel Y. Baig) Copyright: DW / Rachel Y. Baig Eingereicht von Claudia Unseld am 18.5.2012
Bild: DW

Als Leiter medizinischer Versorgungsstationen in einigen Städten und Dörfern Pakistans bekam Naeem Ghani zu sehen, was sonst im Verborgenen blieb. Die Menschen, die ihn um Hilfe baten, zeigten ihm nicht nur ihre kranken und verletzten Körperstellen, sie brachten auch ihre behinderten Kinder mit. Aus Scham hielten viele Familien sie vor den Augen der Nachbarn versteckt. Schließlich sehen streng religiöse Pakistani in den Behinderungen eine Strafe Gottes für begangenes Unrecht.

Naeem Ghani und sein Team halfen den Familien mit kostenlosen Behandlungen und Medikamenten. Doch das alleine konnte ihre Chance auf ein besseres Leben, auf Teilhabe und Mitbestimmung in der pakistanischen Gesellschaft nicht vergrößern. "Bildung ist eine grundlegende Notwendigkeit für alle“, betont Ghani. "Denn Bildung und soziales Verhalten haben einen sehr großen Einfluss auf jede Phase des menschlichen Lebens." Eben auch auf ein Leben mit Behinderungen. Deshalb gründete Naeem Ghani 1993 in Islamabad die "Sultana Foundation".

Erste Grundschule für Jungen

Sie begann als kleine Grundschule für Jungen. In zwei engen Zimmern wurden Schüler unterrichtet, die sich keine Bildung leisten konnten. Ihnen brachten ehrenamtliche Mitarbeiter die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens bei. Drei Jahre später ist neben der Grundschule eine weiterführende Schule für Kinder mit Behinderungen entstanden. Demnächst soll sogar eine kleine Hochschule entstehen, dafür braucht die "Sultana Foundation" allerdings noch die Zustimmung der Regierung.

Dr. Naeem Ghani, der Leiter der 'Sultana Foundation' und sein Team (Foto: DW/Rachel Y. Baig)
Dr. Naeem Ghani und sein TeamBild: DW

Heute unterrichtet die Schule 24 Jungen und 32 Mädchen. Längst spielt sich der Schulalltag nicht mehr nur in kleinen Zimmern ab. Die sogenannte "Sultana Foundation Special Children School" hat größere Klassenzimmer bekommen, aber sie ist auch stärker in die Gesellschaft hineingewachsen. So vermittelt sie ihren Schülern neben Bildung auch eine Berufsausbildung. Sie hilft ihnen dabei, selbstbestimmter zu leben, sich selbst Hilfe zu organisieren, ohne dabei immer auf die eigene Familie angewiesen zu sein.

Freiwillige Lehrer

Außerdem organisiert die "Sultana Foundation Special Children School" Sportgruppen und –veranstaltungen, bei denen die körperbehinderten Kinder und Jugendlichen mitmachen können. Sie hilft ihnen ebenfalls, ihre Freizeit außerhalb der Familie zu gestalten, etwa mit kleinen Ausflügen in die Städte und Umgebung. Das wichtigste Angebot der Organisation ist aber die medizinische Abteilung. Hier bekommen Schüler und deren Angehörige freie ärztliche Betreuung, und dieser Service wird deshalb am meisten genutzt.

Die meisten Lehrer der Organisation arbeiten ehrenamtlich. Ein großer Teil von ihnen sind Rentner, die der Gesellschaft etwas zurückgeben möchten. Viele von ihnen haben früher als Ingenieure, Lehrer oder Wissenschaftler gearbeitet. Für die meisten ist es nicht leicht, an der "Sultana Foundation Special Children School" zu lehren. Schließlich müssen sie zuerst die Zeichensprache lernen, damit sie sich mit den hörgeschädigten Schülern unterhalten können. Die Kinder und Jugendlichen folgen dem Unterricht mit Hilfe von Fotos und Piktogrammen auf Flash-Karten.

Kostenlose medizinische Betreuung an der Sultana Foundation Special Children School in Pakistan (Foto: DW/Rachel Y. Baig)
Die Schüler bekommen freie medizinische BetreuungBild: DW

Keine Chance für geistig-behinderte Schüler?

Die Schule ist mittlerweile zu einem Vorbild für andere Hilfswerke geworden. Immer mehr regionale und ausländische Nichtregierungsorganisationen gründen in Pakistan Schulen für behinderte Kinder und Jugendliche. Allerdings fehlt noch immer eine Gruppe unter den Schülern: die geistig-behinderten Kinder. Viele werden in psychiatrische Anstalten eingewiesen, weil die Eltern meistens weder die Zeit noch das Geld haben, sich um sie zu kümmern. Außerdem wissen die meisten nicht, dass auch geistig-behinderte Kinder mit einer entsprechenden Förderung lesen, schreiben und rechnen lernen können.

Die Bildungschancen behinderter Menschen sind in Pakistan noch immer gering. Das ist kein Wunder in einem Land, in dem über die Hälfte der Bevölkerung im Alter von 15 Jahren Analphabeten sind. Wenn es um Chancengerechtigkeit geht, steht zunächst die Situation der Mädchen und Frauen im Mittelpunkt. Sie zu verbessern, ist ein erklärtes Ziel der UNESCO und zahlreicher Bildungsprogramme.

Überall Barrieren – auch in den Köpfen

Naeem Ghani hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Menschen mit Behinderungen die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Er will ihnen einen Einstieg in das normale gesellschaftliche Leben ermöglichen. Es sind kleine, erste Schritte auf dem Weg zur Integration.

Schüler der Sultana Foundation Special Children School beim Erste-Hilfe-Kurs im Schulunterricht (Foto: DW/Rachel Y. Baig)
Erste-Hilfe-Kurs als Einstieg in ein selbstbestimmtes LebenBild: DW

Von einem selbstbestimmten Leben, wie es behinderten Menschen vor allem in den skandinavischen Ländern ermöglicht wird, können behinderte Menschen in Pakistan nur träumen. In der Gesellschaft bleiben sie weitgehend auf fremde Hilfe angewiesen, egal, wie gebildet sie sind. Denn es gibt so gut wie keine barrierefreien Häuser, Aufzüge sind selbst in Hochhäusern eine Seltenheit.

Doch nicht nur in den Gebäuden und im Straßenverkehr stoßen sie auf unüberwindliche Barrieren. Sie existieren auch in den Köpfen vieler Pakistani, die Menschen mit Behinderungen als Stigma der Gesellschaft sehen.