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Im Sog der Geschichte

Gero Schließ17. November 2014

Assael Häussler betreut Überlebende des Holocaust in New York. Er ist Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen. Seine Aufgabe bereichert ihn, verlangt ihm aber auch viel ab. Gero Schließ berichtet aus New York.

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Assael Häussler, Feiwilliger der Aktion Sühnezeichen, in New York
Bild: DW/G. Schließ

"Assael ist ein Engel, den der Himmel geschickt hat", schwärmt Alex Turney in seinem Appartment, hoch über den Dächern von Manhattan. Er sei so dankbar, dass Assael ihm seine Zeit opfere, sagt der 96-Jährige, der mittlerweile schlecht sieht und hört. Assael sei so gebildet und gut erzogen, weit besser als er selber, sagt er mit einem Schmunzeln.

Reden über den Holocaust

Einmal in der Woche schaut Assael Häussler bei Alex Turney vorbei, um ihm zur Hand zu gehen. Doch vor allem reden die beiden, etwa über Turneys "kulturell anregende" Jahre im jüdischen Waisenhaus in Berlin, die es ihm ermöglichten, am reichen Kulturleben der deutschen Hauptstadt teilzunehmen. Und Turney erzählt auch, wie seine Mutter die Familie im Jahre 1935 nach Amerika brachte, wohin sie vor dem Terror der Nazis flohen. "Assael ist meine Verbindung nach Deutschland", sagt Turney. "Ich habe dort niemanden mehr. Mein Vater, viele Mitglieder meiner Familie und auch die meisten Freunde wurden ermordet." Doch aus eigener Anschauung und nicht zuletzt auch durch die Gespräche mit Assael weiß Turney, dass sich Deutschland "1000-prozentig verändert" hat.

Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) ist seit 1968 in den USA aktiv. Die US-amerikanischen Friedenskirchen luden die erste Gruppe von ASF-Freiwilligen vor 45 Jahren ein, um sich in den USA gemeinsam mit ihnen gegen Rassismus und für Frieden zu engagieren. Die ASF hat inzwischen mehr als 1000 Freiwillige in die USA geschickt. Und längst haben sich die Aktivitäten ausgeweitet. Die Betreuung von Überlebenden des Holocaust ist zu einem wichtigen Bestandteil geworden.

Alex Turney Überlebender des Holocaust
Alex Turney ist 96, lebt in New York und hat den Holocaust überlebt.Bild: DW/G. Schließ

Einladung zum Tangotanzen

Erst zwei Monate ist Assael Häussler als einer von derzeit acht Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in New York. Doch sein Kontakt zu Alex Turney ist bereits so intensiv und herzlich, dass er sogar zu dessen Geburtstagsfeier eingeladen wurde. Wie immer wurde dort Tango getanzt, die große Leidenschaft des studierten Chemikers, wovon vergilbte Fotos in seiner Wohnung zeugen, die ihn und seine verstorbene Ehefrau in rasanter Aktion auf dem Tanzparkett zeigen. Keine Frage, dass auch Assael Häussler das Tanzbein schwingen musste.

Jüdisches Leben in New York

Der 21-jährige deutsche Jude aus Berlin hat schon viel über den Holocaust gehört und gelesen. "Doch mit den Überlebenden zu reden, das ist etwas anderes. Das ist viel emotionaler, das ist komplett anders." Assael sieht diese direkten Kontakte als ein "Geschenk", für das er sehr dankbar ist. Er wurde in Deutschland als Sohn jüdischer Eltern geboren und lebte mit seiner Familie einige Zeit in Israel, bevor er schließlich nach Berlin zog. Dort ging er übrigens zur gleichen Schule wie Alex Turney.

Hier in New York ist Assael Häussler noch viel tiefer ins jüdische Leben eingetaucht, als er das in Berlin tun konnte. "Ich wollte unbedingt andere jüdische Menschen kennenlernen. Das war der Hauptgrund dafür, mich bei der Aktion Sühnezeichen für New York zu bewerben."

Er geht jeden Freitag und Samstag in die Synagoge, trainiert in einem jüdischen Fitnessclub, hat sich eng mit einer New Yorker jüdischen Familie angefreundet und geht jetzt am Wochenende auch mit dem Sohn des Rabbi aus. Und ganz besonders intensiv sind die Begegnungen mit den Überlebenden des Holocaust, die er regelmäßig besucht. "Ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich weiß, was Judentum für mich bedeutet", sagt er.

Geschichten von Tod und Terror

Von seinen 15 "Klienten", die er einmal wöchentlich besucht, hört er immer wieder Erzählungen von Tod, Terror und Vertreibung. Da kommt es vor, dass er mit Tränen in den Augen aus dem Haus stürzt. Es sei manchmal schwer, das alles zu verarbeiten, sagt Assael. Dann fühlt er sich allein hier in New York, auch wenn er mit einem günstigen Flatrate-Tarif in langen Gesprächen Trost und Halt bei seiner Mutter suchen kann. Er sei in den wenigen Wochen "reifer und erwachsener" geworden, meint Häussler.

Edith Kurzweil mit Assael Häussler, Feiwilliger der Aktion Sühnezeichen
Edith Kurzweil im Gespräch mit Assael HäusslerBild: DW/G. Schließ

Auch die dramatische Fluchtgeschichte von Edith Kurzweil hat ihn mitgenommen. Die gebürtige Wienerin erinnert sich noch genau, wie sie von der Wohnung ihrer Eltern aus zusah, als Hitler und die Deutschen in Wien einmarschierten. "Mein Bruder und ich haben uns die Nasen an der Fensterscheibe platt gedrückt", als die Soldaten auf der Wiener Hauptstrasse direkt unter ihnen singend und flaggenschwingend vorbeizogen.

Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs setzten die verzweifelten Eltern Edith und ihren Bruder auf einen Kindertransport, der sie nach Brüssel brachte. Eine dunkle und entbehrungsreiche Zeit begann für Edith Kurzweil.

"Es ist wichtig, dass die Leute wissen, was passiert ist"

Die prominente Soziologin und Buchautorin, die später zeitweise auch in Frankfurt lehrte und mit dem Ehepaar Mitscherlich befreundet war, verbindet mit Assaels Besuch ein persönliches Anliegen: "Es ist wichtig, dass die Leute wissen, was passiert ist." Edith Kurzweil genießt die Gespräche mit Assael Häussler, den sie mütterlich sanft ein "Kid" nennt, auch wenn er doch schon so erwachsen sein wolle. Schließlich sei sie dreimal so alt und er könne ihr Enkel sein, sagt sie und schaut aus ihrem eleganten Wohnzimmer auf den Central Park, dessen herbstliches Blattwerk in der Abendsonne goldgelb leuchtet.

"Bin ich eine Überlebende?", wirft sie fragend in den Raum, ohne von Assael eine Antwort zu erwarten. Zuerst habe sie sich nicht so gefühlt, schließlich sei sie in keinem Konzentrationslager gewesen. "Aber psychologisch bin ich doch schwer in Mitleidenschaft gezogen worden." Heute könne sie relativ entspannt über die Nazizeit reden, erzählt sie. Vor vielen Jahren habe sie noch eine Einladung zum Abendessen ausgeschlagen, weil sie von einem Deutschen kam. Und das, obwohl er sehr gut ausgesehen habe, fügt sie mit trockenem Humor hinzu.

Leben in New York

Man spürt, dass Assael Häussler und Edith Kurzweil etwas miteinander verbindet, auch wenn der junge Mann wohl kaum ahnt, welche intellektuelle Kapazität er vor sich hat. Nach einer guten Stunde vereinbaren beide einen Folgetermin für die nächste Woche und verabschieden sich mit einer Umarmung.

New York und sein jüdisches Leben üben eine große Anziehungskraft auf Assael Häussler aus. Und er glaubt nicht, dass ihn das so schnell loslassen wird. Schon jetzt überlegt er bereits ernsthaft, nach Ablauf des ASF-Jahres in der Stadt zu bleiben und hier zu studieren. Für Edith Kurzweil und Alex Turney wäre das sicherlich eine gute Nachricht.