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Hunger als Sicherheitsrisiko

19. November 2011

2050 müssen weltweit neun Milliarden Menschen ernährt werden. Experten befürchten, dass die Nahrungsmittelproduktion mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten kann. Kriege um Nahrung könnten die Folge sein.

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Ein Mann im Jemen trinkt Wasser aus einer Tüte(Foto: AP)
Hunger und Durst destabilisieren ganze RegionenBild: AP

Es war der englische Pastor und Wirtschaftsökonom Robert Malthus, der vor dem Hintergrund von Hungeraufständen in Paris und London am Ende des 18. Jahrunderts die Theorie begründete, wonach die Erde mit ihren begrenzten Ressourcen nur eine begrenzte Zahl von Menschen ernähren könne. Wachse die Bevölkerung doch über dieses Maß hinaus, werde sie durch Hungersnöte, Seuchen oder Kriege im Zaum gehalten.

Schon in der Antike waren Hungeraufstände ein regelmäßig wiederkehrendes Phänomen. Im Jahr 57 vor Christus berichtet Cicero von wütenden Protesten in Rom wegen drastisch angestiegener Brotpreise: "Es herrschte also akute Teuerung, und eine Hungersnot stand bevor. Nicht genug damit: Es kam zu Steinwürfen."

Hungeraufstände im antiken Rom

In den darauffolgenden Jahren kam es zu nicht weniger als acht großen Hungerkrisen in Rom. Erst dann ergriffen die römischen Kaiser vorbeugende Maßnahmen: Das ägyptische Getreide wurde monopolisiert und hauptsächlich zur Versorgung Italiens und der Hauptstadt Rom verwendet. Damit kamen die Kaiser weiteren Hungeraufständen zuvor und sicherten so ihre politische Macht.

Eine Porträtbüste von Cicero (Foto: PA/dpa)
Schon Geschichtsschreiber Cicero berichtete von HungeraufständenBild: picture alliance/dpa

Bis heute gehen staatliche Eliten in den Entwicklungsländern ähnlich vor, analysiert Wolfgang Heinrich, Agrarexperte des Evangelischen Entwicklungsdienstes: "Regierungen neigen dazu, den urbanen Raum möglichst lange zu befrieden: Durch Preisstützungen, Subventionen für Weizenimporte, etc. Das absorbiert relativ viele Ressourcen. Im ländlichen Raum tendieren sie dagegen dazu, auf Unruhen, mit repressiven Methoden zu reagieren."

In der Nahrungsmittelkrise des Jahres 2008 trat dieses Phänomen erstmals in diesem Jahrhundert im globalen Maßstab zu Tage. In Afrika, Teilen von Asien und in der Karibik kam es zu sogenannten Hungeraufständen. Mal gerieten Regierungen ins Wanken. Mal wurden die Unruhen von politischen Gruppierungen als politische Waffe im innerstaatlichen Machtkampf eingesetzt. Joachim von Braun leitet das Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung. "Nach unseren Untersuchungen hat es in der Lebensmittelpreiskrise 2008 in über 50 Fällen Unruhen und Demonstrationen gegeben, die zum Teil auch zu Regimewechseln geführt haben. Das war eine neue Erfahrung." Diese Unruhen haben die führenden Politiker dieser Welt aufgeschreckt. Seit einigen Jahren wird das Thema auch im Rahmen der UNO und der G20 diskutiert, "denn auch in der gegenwärtig sehr hohen Preissituation setzt sich diese Unruhe fort, wenn auch nicht in der massenhaften Ausprägung, wie das 2008 der Fall war", sagt von Braun.

Hunger als ein Auslöser von innerstaatlichen Krisen

Wissenschaftlich lassen sich direkte Zusammenhänge zwischen Ressourcenknappheit und Konflikten nur sehr schwer nachweisen. Theoretisch kann jede zusätzliche Ressourcenkonkurrenz in Ländern und Regionen, die politisch bereits fragil sind, vor Ort zu gewaltsamen Konflikten führen. Aber meist sind Hunger oder Nahrungsmittelknappheit nur einer unter mehreren Faktoren, sagt Steffen Angenendt, Ko-Autor einer Studie der "Stiftung Wissenschaft und Politik" zum Konfliktpotential von Rohstoffknappheit. Mangelnde Verteilungsgerechtigkeit oder schlechte Regierungsführung müssen hinzu kommen, "um aus einem Engpass ein soziales und damit auch ein Sicherheitsproblem" zu machen.

Dann aber können Proteste gegen hohe Lebensmittepreise in eine Gegnerschaft zum jeweiligen Regime münden. So begannen die Straßendemonstrationen gegen das Regime des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali als Proteste gegen die hohen Baguette-Preise, bevor sie das System als solches in Frage stellten. "Dennoch waren das im Arabischen Frühling eher symbolische Brotunruhen", sagt Entwicklungsforscher von Braun, "sie waren der Auslöser von Demonstrationen in einer komplexen politischen Gemengelage, also nur einer von vielen Gründen für Unzufriedenheit".

Akute Lebensmittelpreisdemonstrationen finden häufiger in Ländern mit deutlich niedrigerem Einkommen als Tunesien statt. Da aber spielen sie eine zunehmend wichtigere Rolle. Wie zum Beispiel in Äthiopien. Dort gehört das Land nach der Verfassung dem Staat. Und der verpachtet große Landflächen an internationale Investoren.

Wolfgang Heinrich vom Deutschen Evangelischen Entwicklungsdienst (Foto: DW)
Wolfgang Heinrich vom Deutschen Evangelischen EntwicklungsdienstBild: DW

Landnahme verstärkt Gewaltpotenzial

Vor allem Kleinbauern verlieren dabei häufig ihre Existenzgrundlage. Wolfgang Heinrich kennt als Agrarexperte des evangelischen Entwicklungsdienstes die Lage vor Ort: "Die äthiopische Regierung hat keine Vorkehrungen getroffen, was mit der kleinbäuerlichen Bevölkerung passieren soll, die jetzt für große mechanisierte Farmen ihre Anbauflächen verlassen müssen". In einigen Teilen Äthiopiens soll es nach Informationen des Evangelischen Entwicklungsdienstes bereits zu lokalen Aufständen gekommen sein.

Auch in Kenia und Uganda verbittert die Verpachtung oder der Verkauf großer Landflächen an ausländische Agrarinvestoren die Betroffenen. Recherchen der britischen Hilfsorganisation Oxfam zeigen, dass zwischen 2006 und 2010 mindestens 22.500 Menschen in den ugandischen Distrikten Mubende und Kiboga ihr Land zugunsten des britischen Holzunternehmens New Forests Company (NFC) verloren haben. Viele Betroffene beklagten gegenüber der Hilfsorganisation, wie sie teilweise unter Anwendung von Gewalt vertrieben wurden und nun mittellos dastehen. "Wir haben es hier vielfach mit Land-Grabbing zu tun", erklärt Oxfams Agrarexpertin Marita Wiggerthale. "Das heißt: Investoren ignorieren die Rechte und Bedürfnisse armer Menschen, die das Land bearbeiteten und davon lebten. Sie verlieren ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlagen, ohne zuvor angehört oder entschädigt zu werden und ohne die Verträge anfechten zu können."

Nicht selten radikalisieren sich diese Unzufriedenen. Damit bilden sie ein Reservoir für islamistische Terrorgruppen, die in den letzten Jahren gerade am Horn von Afrika ihre Aktivitäten verstärkt haben, erläutert der Äthiopienkenner Heinrich: "In Nordkenia sind es Gruppierungen, die mit dem Somalia-Konflikt zusammenhängen. Die Art und Weise, wie die internationale Staatengemeinschaft mit dem Somaliakonflikt in den letzten 20 Jahren umgegangen ist, hat dazu geführt, dass sich die somalischen Kriegsakteure etwa seit dem Jahr 2006 international vernetzt haben und Kooperationsbeziehungen zu Al Kaida-Zellen aufgebaut haben."

Al-Schabab Kämpfer trainieren in Somalia (Foto: AP)
Al-Schabab Kämpfer trainieren in SomaliaBild: AP

Hunger und Terror

Hungernde selbst greifen in den seltensten Fällen zu den Waffen. Eher treten sie bei der Suche nach Nahrung die Flucht an. Auf dem afrikanischen Kontinent führt die Aufnahme und dauerhafte Integration von Hunger-Flüchtlingen regelmäßig zu Verteilungsproblemen. Das schafft neue Konflikte mit dem Potenzial für gewalttätige Auseinandersetzungen. Grundsätzlich aber gilt: Wer seine Familie auf traditionellem Wege nicht mehr ernähren kann, sucht nach Auswegen aus dem Nahrungsmitteldilemma. So hat nach Ansicht von Entwicklungsforschern die Piraterie am Horn von Afrika ihre Ursprünge in der Überfischung der Gewässer vor der Küste Somalias durch internationale Fangflotten.

Heute ist daraus ein Geschäftsmodell für Banditen geworden, das mit hohem Kostenaufwand durch militärische Maßnahmen wie die ATALANTA-Mission am Horn von Afrika bekämpft werden muss. Doch es könnte noch schlimmer kommen, warnt der Sonderbeauftragte der EU für Somalia, Georges-Marce André: "Glücklicherweise ist die Piraterie am Horn von Afrika bisher nicht politisch und wir hoffen, es bleibt nur ein Geschäft. Stellen Sie sich vor, all die Seefahrer, die jetzt zu ökonomischen Geiseln der Piraten werden, wären politische Geiseln! Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn El Kaida oder die Al Schabab-Terroristen einen gekaperten Öltanker vor Mombasa in die Luft sprengten."

Joachim von Braun, Direktor der Gesellschaft für Entwicklung (Foto: DW)
Joachim von Braun, Direktor der Gesellschaft für EntwicklungBild: ZEF

Kriege um Nahrung wird es nach Ansicht der meisten Experte in naher Zukunft wohl eher nicht geben - trotz aller Negativ-Szenarien. Doch werden sich aus der Nahrungsmittelunsicherheit vermehrt globale sicherheitspolitische Konsequenzen ergeben, erwartet der Entwicklungsforscher Joachim von Braun. "Migration und Konflikte um Landbesitz werden sich so zuspitzen, dass sie zur Destabilisierung von Provinzen und Regierungen beitragen. Und da die Welt nun mal verflochten ist, werden sich diese Konfliktlagen in sicherheitspolitischen Problemen widerspiegeln."

Autor: Daniel Scheschkewitz
Redaktion: Matthias von Hein