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Hotel Hoffnung an der Grenze

Sead Husić2. Februar 2014

Im Hotel Alice in Reyhanli, der türkischen Grenzstadt zu Syrien, treffen Aktivisten, islamische Fanatiker, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Flüchtlinge aufeinander. Und alle hoffen, dass alles besser wird.

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Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze bei Reyhanli (Foto: AFP PHOTO / BULENT KILIC)
Bild: Bulent Kilic/AFP/Getty Images

Hoffnung. Sie ist unbezahlbar hier im Hotel Alice am Rande der türkischen Stadt Reyhanli. Nur fünf Kilometer Luftlinie von der Lobby entfernt tobt der Krieg in Syrien. Manchmal sind die Detonationen bis hierher zu hören. Auf dem hoch an der Wand hängenden Flachbildschirm laufen die Schreckensbilder aus dem Nachbarstaat rund um die Uhr: Kinderleichen zwischen Ruinen, weinende Frauen, schmerzverzerrte, mit Staub und Blut überzogene Gesichter, Soldaten, die ihre Gewehre in die Höhe recken und Rache schwören. In den Sesseln und auf zwei Sofas sitzen junge Männer, die gebannt auf die Mattscheibe starren. Sie leben als Flüchtlinge in diesem Hotel. Ihre Zimmer bezahlen Verwandte, die im Ausland leben und ihnen regelmäßig Geld senden. Aber ihr wertvollstes Gut ist die Hoffnung auf bessere Tage.

Ein syrischer Arzt aus Deutschland

Zwischen den Männern sitzt ein älterer Herr mit kurzen dunklen Haaren, glatt rasiertem Gesicht und kleinen freundlichen Augen. Er telefoniert. Auf den Knien des Mannes liegt eine große schwarze Mappe mit einem Notizblock. Namen und Nummern stehen darauf. Der Mann heißt Marwan Khoury. Er hat in den vergangenen Wochen in Deutschland Spenden gesammelt. Zwei voll gepackte Laster mit Hilfsgütern wie Milchpulver, Reis, Mehl, Öl, mit Winterkleidung, Verbandsmaterial, Medikamenten und Spielzeug stehen seit Tagen am türkischen Grenzübergang Cilvegözü und werden, wie hunderte anderer Transporter auch, von den türkischen Beamten nicht nach Syrien durchgelassen. Seit einigen Tagen nämlich haben wenige Kilometer hinter der Grenze die islamistischen Kämpfer der Bewegung "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" (ISIL) mehrere Ortschaften eingenommen. Die türkische Regierung fürchtet, die Hilfsgüter könnten den Islamisten in die Hände fallen. So bleibt die Grenze dicht.

"Diese Daesch! Das ist so frustrierend", schimpft Marwan. Daesch heißt auf Arabisch Esel, und so werden die Islamisten von den Oppositionellen genannt. Marwan stammt aus Damaskus. Vor mehr als zwanzig Jahren ging er nach Deutschland, um in einem Krankenhaus als Arzt zu arbeiten. Seit fünfzehn Jahren hat er eine eigene Praxis für Allgemeinmedizin im bayerischen Ort Hof.

Marwan Khoury (Foto: DW/Sead Husic)
Marwan Khoury versucht, humanitäre Hilfe nach Syrien zu bringenBild: DW/S. Husic

Als die Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Assad-Regierung vor fast drei Jahren in einem Bürgerkrieg eskalierten, ergriff Marwan Partei für die oppositionelle "Syrische Koalition". Immer von der Hoffnung getragen, dass schon bald der Westen helfen, Assad verschwinden und der Krieg enden würde. "Vielleicht könnte ich dann auch wieder den Kontakt zu meiner Schwester aufbauen", sagt Marwan, obwohl diese mit ihrem Ehemann in Damaskus lebt und sich mit dem Regime arrangiert hat. Der Riss geht mitten durch die Familie.

Die Grenze und das lange Warten

Dann steht Marwan plötzlich auf. "Wir fahren an die Grenze", sagt er. Die Fahrt mit einem Taxi dauert nur eine Viertelstunde. Auf der Straße, die zu den hohen Stahlgittern des Grenzübergangs führen, stehen die Lkw seit mehr als zwei Wochen in einer täglich anwachsenden, inzwischen mehr als acht Kilometer langen Dreierreihe. Manche haben Autos geladen, andere Baumaschinen, auf vielen Lastern stapeln sich Zementsäcke. "Der Zement ist für den Bau von neuen Schulen und Ämtern und von Straßen bestimmt", sagt Marwan.

An der Grenze herrscht Stille. Marwan setzt sich in Sichtweite des Grenzübergangs in einen halboffenen Verschlag aus Brettern und blauen Planen. Hier trinken die Schmuggler und die Taxi- und LKW-Fahrer schwarzen Tee und warten darauf, dass sich die Tore öffnen. Nur hundert Meter hinter dem provisorischen Teehaus schlüpfen ab und an syrische Flüchtlinge durch den Maschendrahtzaun. Die türkischen Grenzer und die patrouillierenden Soldaten sehen einfach weg.

Marwans Telefon klingelt wieder. Es sind Aktivisten aus Syrien, die ihn bitten, Nähzeug zum Vernähen von Wunden und Verbandsmaterial zu besorgen. Marwan schreibt das alles in seinen Notizblock. "Ich hoffe, die Türken öffnen die Grenze hier bald, denn in den Lastwagen befinden sich genügend Mullverbände", sagt er und lächelt.

Lkw-Kolonne vor dem Grenzübergang Bab al-Hawa (Foto: DW/Sead Husic)
Seit Wochen warten die LKW-Fahrer am Grenzübergang darauf, dass er wieder geöffnet wirdBild: DW/S. Husic

Eine Frau lässt sich nicht unterkriegen

Abends trifft sich Marwan in der Lobby des Hotels Alice mit Rania Kisar. Rania ist Aktivistin und hat das "Revolutionskomitee der Frauen" gegründet. Erst vor wenigen Tagen ist sie aus dem Kriegsgebiet bei Idlib nach Reyhanli gekommen, weil die Islamisten sie auf eine Todesliste gesetzt haben. Rania trägt kein Kopftuch und tritt sehr selbstbewusst und eloquent auf. Sie sieht die syrischen Frauen als gleichberechtigte Kämpferinnen für die Freiheit ihres Landes an. Allein das reicht schon, um die Islamisten zur Weißglut zu treiben.

Ranias Eltern leben in den Vereinigten Staaten. Ihr Vater ist ein Selfmademillionär, dem die Restaurant-Kette "Fallafel and more" gehört. Ihr Bruder arbeitet als Softwareentwickler und lebt den amerikanischen Traum. Rania hatte mit 20 einen Syrer in Damaskus geheiratet, studierte dort Business Management und bekam zwei Kinder. Ein normales Leben. Doch als sie sich kritisch über das Assad-Regime äußerte, wurde sie verhaftet. "Ich war mit Zwillingen schwanger", sagt sie, "und während der Haftzeit verlor ich einen der Zwillinge. Nachdem ich aus dem Gefängnis kam, trennte sich mein Mann von mir und nahm mir die Kinder weg."

Rania zog zu ihren Eltern nach Dallas. Als der Aufstand in Syrien begann, kündigte sie ihre Stelle und gab ihr altes Leben auf, um die Revolution zu unterstützen, wie sie sagt. Ihr Ehemann lebt mit den Kindern nach wie vor in der Hauptstadt und gilt als Anhänger des Regimes. Seit nunmehr vier Jahren hat Rania ihre Kinder nicht gesehen.

Flüchtlinge im Hotellobby im Hotel Alice in Reyhanli (Foto: DW/Sead Husic)
Erzählen, hoffen, fürchten: Flüchtlinge in der Lobby des Hotel AliceBild: DW/S. Husic

Schlechte Nachrichten aus der Heimat

In der Lobby hat sich um sie ein Kreis von Zuhörern gebildet. Rania erzählt, wie Assads Luftwaffe die Menschen terrorisiert. "Sie werfen Bombenpakete mit Fallschirmen über uns ab. Die schweben sehr langsam zu Boden. Der Wind weht sie mal in die eine, mal in die andere Richtung und ich weiß nicht, wohin ich laufen soll, um der Detonation zu entgehen. Also bleibe ich stehen und warte, wohin das Paket geweht wird", sagt Rania.

Marwan verlässt die Lobby. Er steht auf der leeren Terrasse vor dem Hotel und telefoniert. Als er aufgelegt hat, bleibt reglos in einer Ecke stehen. Sein Körper zittert. Hastig wischt er sich über die Wangen. "Jede Stunde erreicht uns irgendeine schlechte Nachricht. Gerade habe ich erfahren, dass die Islamisten 50 Syrer ermordet haben. Was soll man machen?" fragt er. Und sieht dabei sehr einsam aus.

Mustafa und die Islamisten

Am folgenden Morgen checken zwölf junge Männer mit auffallend langen Bärten ins Hotel Alice ein. Sie haben sechs Krankenwagen an die Grenze gebracht. Kaum einer von ihnen ist älter als 30. Sie tragen selbst zusammengestellte Monturen, die an Kampfanzüge erinnern. Sie sprechen Englisch mit Londoner Akzent. Marwan vermutet, dass sie aus Pakistan oder Afghanistan stammen könnten. Wem ihre Unterstützung gilt, ist nicht zu erfahren, denn sie bleiben unter sich. Sobald eine Frau durch die Lobby geht, wenden sie demonstrativ ihren Blick zu Boden. "Solche Leute wollen wir in Syrien nicht haben", sagt Marwan.

Als die Jugendlichen im hinteren Teil der Lobby den abgetrennten Wasserpfeifen-Raum entdecken, werden sie aggressiv und brüllen "Haram!" (Sünde!). Erst einer der Rezeptionisten kann sie beruhigen. Er heißt Mustafa und erklärt, dass es nicht Aufgabe eines Moslems sei, andere zum richtigen Weg zu bekehren. "Jeder soll so leben, wie er denkt", sagt er in gebrochenem Englisch.

Deutscher Arzt Marwan Khoury an der türkisch-syrischen Grenze bei Reyhanli (Foto: DW/Sead Husic)
Marwan Khoury hofft auf das schnelle Ende des Assad-RegimesBild: DW/S. Husic

Eine Welle der Hoffnung

Im Hotel Alice sind auch einige türkische Krankenwagenfahrer einquartiert. Sie sind jetzt in Eile, müssen schnell zu einem Einsatz, um verletzte Syrer an der Grenze aufzusammeln - darunter auch ein Säugling, dem in den Rücken geschossen wurde.

Dann erfährt Marwin per SMS, dass die Türken die Grenze aufmachen. Die Hilfstransporter könnten vielleicht schon morgen nach Syrien fahren. Er blättert in seinen Notizen, als befinde er sich inmitten eines Sturms. Aber er scheint in diesem Moment froh zu sein, denn er ist von einer gewaltigen Welle erfasst worden, die nicht in Gold aufzuwiegen ist. Eine Welle der Hoffnung.