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Homosexuelle: Irgendwie überleben

Daniel Heinrich, Istanbul7. Juni 2015

Die Türken haben am Sonntag gewählt. Vielen Minderheiten graut vor einer Zweidrittelmehrheit der regierenden AKP - Schwulen und Lesben zum Beispiel. Sie fürchten noch mehr Stigmatisierung. Daniel Heinrich aus Istanbul.

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Istanbul Gay Pride 2014 (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Sedef Çakmak kommt zu spät zum Treffen in einem Café im Herzen Istanbuls. Abgehetzt sieht sie aus. Die dunklen Augenringe zeugen vom Stress der vergangenen Tage und Wochen. Es ist Wahlkampf in der Türkei. Das schlaucht. Aber die 33-Jährige steht auch aus anderen Gründen unter Druck: Sie ist die einzige Abgeordnete in der Türkei, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennt. Für die kemalistische CHP sitzt sie im Stadtparlament von Istanbul. Eine Politik für Lesben und Schwule wie in Westeuropa kann sie dort nicht machen - Debatten über Anerkennung und rechtliche Gleichstellung der Homo-Ehe scheinen ihr wie von einem anderen Stern.

Sedef nippt an ihrem Kaffee, dann legt sie los: "Menschen hier begehen Selbstmord oder sie werden von ihren Familien umgebracht, wenn die rausfinden, dass sie homosexuell sind!" Selbst sie als Abgeordnete fühlt sich nicht sicher: "Meine Familie hat große Angst um mich. Ich fühle mich immer noch unsicher, wenn ich die Straße heruntergehe. Meine Freundin will meine Hand in der Öffentlichkeit immer noch nicht halten." Selbst der Polizei vertraut sie nicht: "Wenn du angegriffen, begrapscht oder angespuckt wirst, weil du lesbisch bist, und du gehst zur Polizei, dann nehmen die dich nicht ernst. Oder sie geben Dir die Schuld und sagen, dass du etwas falsch gemacht hast."

Politikerin Sedef Çakmak (Foto: DW/Heinrich)
Politikerin und Lesbe: Sedef ÇakmakBild: DW/D. Heinrich

"Zwanzig wahre Antworten"

Eindrücklich erzählt Sedef von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung, in der Schule, in der Familie, am Arbeitsplatz. Viele Leute in der Türkei würden Homosexualität mit einer psychischen Krankheit gleichsetzen: "Wenn jemand sein Coming-out hat, werden die Eltern mit ihm zu einem Psychologen gehen." Über eine Stunde sitzen wir im Café.

Als ich schließlich auf die Straße trete, renne ich fast einen der zahlreichen Freiwilligen um, die Wahlkampfflyer verteilen. "Yirmi Doğru Cevap" - "Zwanzig wahre Antworten" prangt in großen Lettern auf der Broschüre der religiös-konservativen AKP. Ich traue meinen Augen kaum: Auf Seite 17 behauptet die Partei, die Türkei sei offen für alle Menschen. Auch für Homosexuelle. Dazu ein Bild mit Regenbogenflaggen und bunten Menschenmassen, eine Aufnahme der "Gay Pride Parade", des Marsches für die Gleichberechtigung von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen. Vergangenes Jahr nahmen daran in Istanbul über 70.000 Menschen teil. Viele von ihnen erzählten später, dass sie sich nur in einer so großen Menschenmenge trauten, offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen.

Die "Gay Pride Parade" mit organisiert hat SPoD, eine Nichtregierungsorganisation in Istanbul. Cihan Hüroğlu arbeitet für SPoD, und als er sieht, dass ausgerechnet die AKP sich in ihrer Wahlwerbung als Verteidiger der Rechte von Schwulen und Lesben ausgibt, muss er schmunzeln. "Eigentlich will die AKP nichts mit uns zu tun haben", stellt er klar. "Aber offensichtlich will sie sich der Vorstellung hingeben, dass sie auch uns für da ist - das ist doch gut!" Das zeige zumindest, fügt er ironisch hinzu, "dass irgendjemand in deren Wahlkampfteam sich verantwortlich dafür fühlt, die Probleme der Bewegung anzusprechen".

Cihan Hüroğlu von der Nichtregierungsorganisation SPoD (Foto: DW/Heinrich)
Auf der "Gay Pride Parade": Cihan HüroğluBild: DW/D. Heinrich

Mit der Realität habe das aber nichts zu tun, erläutert Cihan Hüroğlu und erzählt von der Unterstützerliste, die er und seine Kollegen kurz vor der Wahl aufgesetzt haben. Die simple Forderung: Parlamentsabgeordnete sollten mit ihrer Unterschrift signalisieren, dass sie für die Rechte der Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen eintreten. Von 550 Abgeordneten haben 57 die Liste unterschrieben. Von der AKP war kein Einziger dabei.

Der Druck muss von außen kommen, ist Alexander Geiger von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul überzeugt. Er arbeitet oft mit SPoD zusammen und betont, die Zivilgesellschaft sei in der Türkei viel weiter entwickelt als die etablierten Parteien. Vor allem die regierungskritischen Proteste rund um den Gezi-Park vor zwei Jahren hätten in dieser Hinsicht viel ins Rollen gebracht. "Zum einen haben sie dazu beigetragen, die breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren." Das Thema Gleichstellung werde von vielen Menschen nun viel stärker wahrgenommen: "Es ging bei Gezi auch um die Toleranz ganz unterschiedlicher Lebensweisen. Es ist zum politischen Statement geworden, für die Bewegung der Homosexuellen einzutreten, für eine liberale, weltoffene Türkei.

Wahlkampfplakate in Istanbul, Türkei, Juni 2015 (Foto: DW/Heinrich)
Wahlkampfplakate in IstanbulBild: DW/D. Heinrich

Ein Gefängnis für Homosexuelle

Wie dringend notwendig eine breite Unterstützung der gesamten Bevölkerung ist, wird klar, wenn man das Vorhaben der AKP betrachtet, ein separates Gefängnis für Homosexuelle zu errichten - vorgeblich, um Schwule und Lesben vor Diskriminierung zu schützen.

Sedef Çakmak packt bei dieser Vorstellung das kalte Grauen: "Am Schluss werden sie Gefängnisse für alle Minderheiten bauen. Für Homosexuelle, für Armenier, für Kurden. Diese Entwicklung ist einfach zu gefährlich." Falls die AKP noch mehr Stimmen bekomme, werde sie noch aggressiver gegen die schwul-lesbische Bewegung vorgehen.

Für einen kurzen Moment wirkt sie verzagt. Doch dann siegt ihr Kämpferherz: "Man kann sein Leben nicht nach Angst ausrichten. Man hat nur zwei Optionen. Entweder du fliehst oder du kämpfst. Und wir, die Aktivisten, haben uns schon lange dazu entschlossen zu kämpfen."