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Historischer Putsch-Prozess

Basak Özay 3. April 2012

Mehr als 30 Jahre nach dem blutigen Militärputsch in der Türkei kommen die noch lebenden Anführer auf die Anklagebank. Eine Verurteilung ist fraglich. Dennoch gilt der Prozess als richtungsweisend.

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Die Putschfüjrer 1980 (Foto: AP/dapd)
Bild: dapd

Er bereut nichts: Das ist die Botschaft des ehemaligen Putsch-Führers Kenan Evren bei den Vernehmungen. "Das Parlament hat nicht funktioniert. Jeden Tag wurden bis zu 20 Menschen getötet" - so rechtfertigt Evren auch heute noch den Putsch des Militärs am 12. September 1980. Generalstabschef Kenan Evren verhängte damals das Kriegsrecht, löste das Parlament auf und verbot alle Parteien. Er rechtfertigte den Putsch mit den blutigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppierungen, die über 5000 Menschenleben forderten. Das Militär müsse eingreifen, um die Sicherheit und die staatliche Autorität wiederherzustellen.

Mehr als 650.000 Menschen wurden verhaftet, um die 50 sogar hingerichtet. Ertuğrul Kürkçü, ein Abgeordneter der kurdischen Partei BDP, der damals wegen seines linksorientierten politischen Engagements bereits seit mehreren Jahren inhaftiert war, bezeichnet diesen Putsch als "das größte Attentat" in der politischen Geschichte der Türkei.

Verfassungsänderung macht Prozess möglich

Mehr als 30 Jahre lang befürchteten viele Bürger, die Putschisten würden niemals zur Verantwortung gezogen werden. Denn die Verfassung, die nach dem Putsch eingeführt wurde, sicherte ihnen lebenslange Immunität vor Strafverfolgung zu. Auf Initiative der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP stimmten die Bürger 2010 per Referendum für eine Verfassungsänderung, die es möglich machte, diese Immunität aufzuheben.

Erst dadurch eröffnete sich die Möglichkeit, die beiden noch lebenden Generäle und damaligen Anführer des Putsches ab Mittwoch (04.04.2012) vor Gericht zu stellen: Generalstabschef Kenan Evren und Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya. Die Staatsanwaltschaft fordert für die damals verübten Verbrechen lebenslange Haftstrafen.

Der Vorsitzende des Vereins der "Modernen Juristen" in der Türkei, Rechtsanwalt Selçuk Kozağaçlı, macht sich allerdings keine große Hoffnungen: "Es ist klar, dass diese beiden Generäle, die schon über 90 sind, sich keineswegs im Gerichtssaal blicken lassen werden. Es wird diskutiert, ob es möglich ist, sie durch eine Telekonferenz zu befragen. Ein gerichtliches Gutachten wird das feststellen." Besagt das Gutachten, dass aufgrund des gesundheitlichen Zustands eine Befragung nicht möglich ist, wird das Gericht darauf warten, dass sich ihre körperliche Verfassung verbessert. "Das heißt, entweder sie sterben und der Prozess entfällt", so Kozağaçlı, "oder, was kaum möglich ist, es geht ihnen besser und sie werden befragt." Und das könne sich über Jahre hinziehen. "Da sie sowieso sehr alt sind, kann die lebenslange Haftstrafe nicht verhängt werden. Sie werden also wahrscheinlich keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen", erklärt Selçuk Kozağaçlı.

Ein Zeichen der Demokratisierung?

Was bedeutet es aber für die Türkei, Putschisten - zumindest symbolisch - zu verurteilen? Setzt sich die Türkei tatsächlich mit einem dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit auseinander? Für den Rechtswissenschaftler Turgut Tarhanlı von der Bilgi Universität in İstanbul ist der Prozess zwar ein wichtiger, aber nicht ausreichender Schritt. Der Experte für Menschenrechte meint, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit viel mehr erfordert als eine gerichtliche Entscheidung: "Noch wichtiger ist eine weitgehende Erneuerung des Systems, und dafür ist politischer Wille nötig." Der ganze Staatsapparat sei damals verantwortlich gewesen; alle, die die Befehle des Militärs durchgesetzt haben, müssten deshalb zur Rechenschaft gezogen werden. Ein glaubwürdiges Umdenken sei nur dann möglich, wenn die Türkei sich von der "geistigen, juristischen und politischen Mentalität der Putschisten distanziert". Und genau das sei nicht der Fall, kritisiert Tarhanlı.

Ganz im Gegenteil: Das Vermächtnis des Militärregimes bestehe noch immer, meint der Abgeordnete Ertuğrul Kürkcü: "Es gibt weiterhin eine Zehn-Prozent-Hürde für die Parteien, das Parteiengesetz ist unverändert. Es ist in der Türkei zudem sehr schwierig, Vereine, Stiftungen und Gewerkschaften zu gründen." Die hohe Zahl der inhaftierten Journalisten zeige, wie sehr Meinungsfreiheit unterdrückt werde. "Ich sehe nirgendwo ein Zeichen der Demokratie", beklagt Kürkcü. Auch Rechtsanwalt Kozağaçlı verweist darauf, dass heute in der Türkei immer noch Zeitungen verboten werden und die Machthaber hart gegen die Opposition vorgehen: "Warum sollten wir diese Phase als eine große Veränderung betrachten, wenn Dinge, die wir damals schon kritisiert haben, immer noch bestehen?"

Debatten um eine neue Verfassung

Auch die türkische Verfassung gehört zum Erbe des "12. September". In den vergangenen Jahren zwar mehrmals geändert, blieb das Dokument selber immer eine "Putschverfassung". Die AKP-Regierung versucht, zusammen mit allen im Parlament vertretenen Parteien eine neue zivile Verfassung auszuarbeiten. Doch eine Verfassung könne nur dann als "neu" bezeichnet werden, wenn sie die Bedürfnisse der Arbeitnehmer, Studenten, Minderheiten, Frauen, Homosexuellen und aller anderen diskriminierten Gruppen berücksichtige, meint Selçuk Kozağaçlı. Ob sich in diesen Punkten mit der neuen Verfassung etwas ändert, bezweifelt der Rechtsanwalt.

Der türkische General Kenan Evren bei einer Pressekonferenz (Foto: picture alliance)
Der türkische General Kenan Evren 1980Bild: picture alliance/UPI