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Schmaler Grat

Sarah Steffen26. Juli 2014

Noch nie waren so viele Kinder und Jugendliche in der Obhut von Jugendämtern. Darunter sind auch vermehrt Flüchtlingskinder. Auch sie sollten Anspruch auf Hilfen haben, fordert Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers.

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Symbolbild Kindesmissbrauch (Foto: dpa - Bildfunk)
Bild: picture-alliance/dpa

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren noch nie so viele Kinder und Jugendliche in der Obhut von Jugendämtern wie im Jahr 2013. Auch die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hat mit rund 6.600 Kindern einen neuen Höchststand erreicht.

DW: Jugendämter in Deutschland haben 2013 mehr Kinder und Jugendliche in Obhut genommen als das Jahr zuvor. Warum sind die Zahlen um fünf Prozent angestiegen?

Heinz Hilgers: Das geht ja jetzt schon seit Jahren so. Wenn Sie die Zahlen in einem längeren Zeitraum vergleichen, dann sind die Inobhutnahmen im Jahr 2005 von 25.664 auf 42.123 im Jahr 2013 gestiegen. Das ist auch nicht mehr erklärbar mit der Steigerung der Inobhutnahmen von unbegleiteten Minderjährigen - Flüchtlingskindern - die aus dem Ausland einreisen. Und deswegen ist das natürlich ein großes Problem, das besonderer Aufmerksamkeit der Jugendhilfe und auch der Politik bedarf.

Das Statische Bundesamt hat die Überforderung der Eltern als häufigsten Grund genannt - schaut man jetzt genauer hin?

Ja, das auch. Es gibt ja zwei Tendenzen: Eine Tendenz ist, dass in der Öffentlichkeit immer mehr berichtet wird. Die öffentliche Berichterstattung über Kindesvernachlässigung hat sich vervielfacht in den letzten Jahren. Das geht einher mit einer Steigerung der Inobhutnahme.

Der zweite Punkt ist - wie im Fall Kevin [ein zweijähriger Junge, der misshandelt wurde und 2006 starb; Anm. d. Red.] - dass auch die Gerichte in Einzelfällen gegen die Mitarbeiter von Jugendämtern vorgehen, wo man der Auffassung ist, dass sie zu spät eingegriffen hätten. Und auch das führt natürlich dazu, dass Mitarbeiter sehr sehr vorsichtig geworden sind - vielleicht hier und da auch übervorsichtig.

Und der dritte Punkt ist, dass wir durch die jahrelange Steigerung der Kinderarmut in Deutschland auch mehr Problem- und Krisenfamilien geschaffen haben, in denen sich dann auch häufig Probleme entwickeln, die sie selbst nicht mehr bewältigen können.

Sie sprachen gerade den Fall des zweijährigen Kevins an, der 2006 in Bremen starb. In der Vergangenheit wurden Vorwürfe erhoben, dass die staatlichen Stellen nicht schnell genug reagiert hätten. Sind die Jugendämter jetzt eher bereit, Kinder schneller aufzunehmen?

Die Steigerung weist sicherlich darauf hin, aber es ist nicht immer gesagt, dass das auch richtig ist. Auch eine Inobhutnahme eines Kindes, wo es nicht notwendig wäre, ist Gewalt gegen Kinder. Das ist natürlich ein schwerer Eingriff, der ein Kind auch traumatisiert. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch sehr gefährlich, wenn ein Kind nicht in Obhut genommen wird, obwohl es notwendig wäre. Und auf diesem schmalen Grat bewegen sich die Mitarbeiter der Jugendämter. Sie brauchten eigentlich mehr Rückendeckung und mehr öffentliche Unterstützung.

Heinz Hilgers (Foto: picture alliance)
Heinz Hilgers ist der Präsident des Deutschen KinderschutzbundesBild: picture-alliance

Was passiert mit den Kindern, wenn sie vom Jugendamt betreut werden? Werden sie in einem Heim leben oder kommen sie zu Pflegeeltern?

Das ist unterschiedlich. Das kommt einmal darauf an, was die Jugendämter für Ressourcen haben, zum anderen kommt es aber auch darauf an, wie der Fall gelagert ist. Es kann nicht ein jedes Kind in eine Pflegefamilie kommen. Bei jüngeren Kindern ist die Chance, dass sie in eine Pflegefamilie vermittelt werden können, weit größer als bei Älteren zum Beispiel.

Wie wahrscheinlich ist es denn, dass sie irgendwann zurück zu ihren leiblichen Eltern kommen werden?

Das kommt auch darauf an, wie man mit den leiblichen Eltern parallel arbeitet. Nach der Inobhutnahme ist es notwendig, dass mit den leiblichen Eltern familienunterstützend gearbeitet wird, zum Beispiel durch sozialpädagogische Familienhilfe, durch intensive Betreuung, durch Bearbeitung von Drogenproblemen und so weiter. Und wenn das geschieht, gibt es eine Chance. Wenn das nicht konsequent geschieht, gibt es keine.

Die Daten zeigen auch, dass die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Obhut ebenfalls angestiegen ist. Was passiert mit ihnen in staatlicher Obhut? Werden sie in den gleichen Heimen untergebracht? Dürfen sie in Deutschland bleiben?

Das ist auch sehr unterschiedlich - Städte und Gemeinden sind nicht verpflichtet, unbegleiteten Flüchtlingskindern dauerhaft hier Unterkunft zu gewähren. Einige Städte wie die Stadt Köln machen das vorbildlich; andere Städte lehnen das ab, auch entsprechende Kostenübernahmen. Und dadurch gibt es eine sehr unterschiedliche Behandlung unbegleiteter Flüchtlingskinder in Deutschland. Manche werden sehr lange in entsprechenden Notaufnahmen an Flughäfen untergebracht und dann abgeschoben. Wieder anderen wird - wie zum Beispiel in Köln - über einen längeren Zeitraum Jugendhilfe zur Integration gewährt. Da fordern wir als Kinderschutzbund, dass auch alle Flüchtlingskinder Anspruch auf Jugendhilfe haben.

Heinz Hilgers ist der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, eine Organisation, die sich für die Rechte von Kindern einsetzt.

Das Interview führte Sarah Steffen