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Helden in der eigenen Welt

Kathrin Schrage19. April 2014

In Deutschland leben gegenwärtig 1,4 Millionen Demenzkranke. Laut Prognose könnte sich die Zahl bis 2050 mehr als verdoppeln. Bewegung hilft nicht nur den Erkrankten, sondern auch ihren Angehörigen.

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Demenz-Sportgruppe mit Übungsleiterin Kathrin Dietrich (Foto: Uhlmann)
Demenz-Sportgruppe mit Übungsleiterin Kathrin Dietrich (2.v.r.)Bild: Michael Uhlmann Photographie

Christa tanzt. Urplötzlich sind ihre Gesichtszüge verzaubert. Der eben noch ernste, fast starre Ausdruck mit nach unten gezogenen Mundwinkeln ist einem Lächeln gewichen. Ausgelassen hüpft und springt sie zur Musik durch die Turnhalle. Mit Christa bewegen sich 19 weitere Männer und Frauen im Alter zwischen 55 und 80 Jahren, jeder wählt Tempo und Richtung selbst. Von Chaos keine Spur. Rücksichtsvoll und achtsam gleiten die Teilnehmer aneinander vorbei.

"Wenn ihr jemandem direkt begegnet, gebt ihm die Hand und begrüßt ihn", lautet die deutliche Ansage von Übungsleiterin Kathrin Dietrich. Seit gut drei Monaten leitet die Physiotherapeutin die neu gegründete Sportgruppe im Kreis Minden-Lübbecke. Einmal wöchentlich finden sich Demenzerkrankte und ihre Angehörigen unter Dietrichs erfahrener Anleitung in der ehemaligen Grundschul-Turnhalle zusammen, um gemeinsam aktiv zu sein. Die Kunst besteht bei dieser besonderen Gruppe darin, sowohl den Bedürfnissen der Erkrankten als auch denen der Angehörigen gerecht zu werden. Und damit ist nicht allein der Bewegungsfaktor gemeint, wie Kathrin Dietrich betont: "Mir ist gerade bei den Demenzerkrankten wichtig, dass sie ihre Kognition, so weit es ihnen möglich ist, mitnehmen. Jeder ist auf einem anderen Stand. Wir dürfen niemanden bloßstellen, und trotzdem müssen wir jedem das Gefühl geben, dass er hier als kleiner Held wieder herausgeht."

Zwischen Liebe und Pflicht

Die Freude an der Bewegung und das herzliche Miteinander unter Gleichgesinnten spornen die Teilnehmer an. Noch kennen sich die Teilnehmer der Gruppe nicht besonders gut, und doch sind sie durch gleiche Umstände und gleiche Sorgen schon eng verbunden. "Wenn man von so einer Krankheit betroffen ist, ist man schnell alleine gelassen", sagt Horst, der die Gruppe mit seiner erkrankten Frau Marianne besucht. In den vergangenen Monaten hat sich das Leben für das Ehepaar drastisch verändert. "Man steht da, und ja, dann kennt einen keiner mehr. Das ist leider so, auch wenn es die Nachbarn sind", sagt Horst ehrlich. Er, im Alltag nun neben dem liebenden Ehemann auch Pfleger, erhofft sich, in der Sportgruppe neue Bekanntschaften zu finden. Die sportliche Bewegung tut ihm jedenfalls sichtlich gut. "Ich denke mal, ich bin von der Statur noch ganz gut drauf, aber man wird hierbei doch ganz schön gefordert, stelle ich fest."

Sehnsucht nach Gemeinschaft

Damit die Teilnehmenden nicht überfordert werden, trifft der Vorsitzende des Vereins "Leben mit Demenz", Hartmut Schilling, eine Vorauswahl. "Es ist nicht jeder Demenzkranke richtig in dieser Gruppe", sagt Schilling, der deshalb alle Interessenten zunächst persönlich zu Hause besucht. Für Demenzkranke im Spätstadium wäre diese Form der Zusammenkunft zu anspruchsvoll. Nicht selten muss Hartmut Schilling den Mitgliedern auch nach einigen Monaten mitteilen, dass die Krankheit in ihrem Fall mittlerweile zu weit fortgeschritten ist und sie nun nicht mehr Teil der Sportgruppe sein können. In diesen Fällen kommen andere Projekte des reichhaltigen Vereinsangebots ins Spiel. Neben dem klassischen Bewegungstraining werden Kanuwandern, Radtouren, Schwimmen sowie Ausflüge zu kulturellen Veranstaltungen oder in die Natur angeboten. "Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Gemeinschaft", sagt Schilling. "Und dieses Bedürfnis wird hier im wahrsten Sinne des Wortes gut befriedigt."

Soziale Isolation und privater Rückzug

Die gesellschaftliche Isolation stellt für die meisten mit Demenz konfrontierten Angehörigen die Hauptschwierigkeit dar. Mit dem Schock der Diagnose und fortschreitender Krankheit erfolgt oft der Rückzug in die eigenen vier Wände. Zudem klammern sich viele Betroffene stark an ihre Bezugsperson und engen diese damit sehr ein. Damit geht oft Bewegungsarmut einher. Wally genießt deshalb die sportlichen 90 Minuten in der Turnhalle und fühlt sich "mal nicht verantwortlich". "Ich liebe das auch, wenn man zu zweit hierhin geht, statt den Partner nur irgendwo abzuliefern", sagt Wally und wirft ihrem Mann Harm einen liebevollen Blick zu. Als sie vor einiger Zeit als Teilnehmerin an einer Demenz-Studie ihren Mann für zwei Stunden bei einem Begleiter zurücklassen sollte, habe ihr Ehemann gefragt, ob sie ihn nicht doch mitnehmen könne, er werde auch ganz still sein. "Das hat mich sehr berührt", gesteht Wally geschmeichelt und gleichsam bewegt.

Verloren geglaubte Potenziale kommen zum Vorschein

Das Erleben des erkrankten Partners in der Sportgruppe kann aber auch verloren geglaubte Potenziale wieder zum Vorschein bringen. Erika ist heute zum ersten Mal mit Ehemann Siegfried zu Gast: "Ich bin ganz überrascht, was mein Mann noch alles kann, weil er zu Hause gar nichts mehr tut und immer nur liegt und schläft", schildert sie. Im Verlauf der Stunde nimmt sie sich mehr und mehr zurück, unterlässt es, ihrem Mann Anweisungen zu geben oder ihn zu korrigieren. Erika ist ganz bei sich. Siegfried auch. Und trotzdem sind sie in Gemeinschaft und aktiv.