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Geehrt: Grass in Taiwan

Klaus Bardenhagen16. Oktober 2012

Während Deutschland auch am 85. Geburtstag des Nobelpreisträgers über seine Israel-Kritik diskutiert, ist Grass’ Reputation in Taiwan intakt. Streitbare Intellektuelle wie er sind hier selten. Dabei gäbe es viele Themen.

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Günter Grass bei der Neueröffnung Günther Grass-Haus in Lübeck (Foto: dpa)
Günter Grass bei der Neueröffnung Günther Grass-Haus in LübeckBild: picture-alliance/dpa

Auch an seinem 85. Geburtstag wird die Kritik kaum verstummen: Die Debatte um Günter Grass' israelkritisches Gedicht ist in Deutschland noch längst nicht beendet. Doch woanders interessiert sich kaum jemand für die Frage, ob der Nobelpreisträger seine Reputation nun beschädigt hat oder nicht. In Taiwans Hauptstadt Taipeh war man vor einer Woche vor allem stolz darauf, dass Grass eigens eine Videobotschaft gesendet hatte. "Meine Damen und Herren", wandte der Autor sich an seine Leser, "ich freue mich, dass in Taiwan meine Bilder und meine Skulpturen dem Publikum gezeigt werden." Anlass war die Eröffnung einer Ausstellung im Nationalen Literaturmuseum in Taiwans Kulturhauptstadt Tainan. Eigentlich sollte Grass persönlich kommen, aber er muss sich schonen und konnte den über zwölfstündigen Flug nicht auf sich nehmen.

Mit Grass Geschichte kennenlernen

Deutsche Literatur auf Taiwan, das ist eigentlich ein Nischenthema. Auch der Leiter des Literaturmuseums gesteht ein: Er musste sich selbst erst mit Grass vertraut machen, bevor die Ausstellung in sein Haus kam. Dabei half ihm Lin-Liu Hui-Ann. Die Professorin lehrt deutsche Sprache und Literatur in Taipeh und gilt als führende Grass-Expertin Taiwans. Ihr haben ihre Landsleute es zu verdanken, dass sie das literarische, grafische und bildhauerische Werk des Nobelpreisträgers nun mit eigenen Augen betrachten können.

"Das trommelnde Jahrhundert": Huang Guang-nan, Minister ohne Aufgabenbereich in Taiwans Regierung, wünscht der Ausstellung in Tainan viel Erfolg. (Foto: Bardenhagen/DW)
"Das trommelnde Jahrhundert": Huang Guang-nan, Minister ohne Aufgabenbereich in Taiwans Regierung, wünscht der Ausstellung in Tainan viel ErfolgBild: DW

Aber lohnt sich das auch, wenn ein Besucher zuvor nie von Grass gehört hat? "Natürlich", erwidert die Professorin wie aus der Pistole geschossen, "dann wird er nicht nur Grass kennen lernen, sondern auch Geschichte - von Deutschland, von der Welt. Auch von der Geschichte Asiens gibt es ein Stückchen zu sehen."

Schilderung des Boxeraufstands

Grass, der Geschichtslehrer: Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen mehr als 100 Aquarelle zu seinem Werk "Mein Jahrhundert". Darin lässt Grass das 20. Jahrhundert aus unterschiedlichsten Blickwinkeln Revue passieren. Besonders interessant für Taiwaner: Ein Kapitel spielt in China. Dort wird die grausame Niederschlagung des Boxeraufstands durch westliche Truppen im Jahr 1900 geschildert. "Da ist ein bayerischer Soldat dabei", erklärt Lin-Liu Hui-Ann, "der davon erzählt, wie er diese Invasion erlebt hat, was er gesehen und was er verheimlicht hat, was er seiner Verlobten nicht erzählt und was er ihr erzählt hat."

Laut aussprechen, was andere lieber verdrängen. Den Finger in offene Wunden der Gesellschaft legen. So hat Grass sich in Deutschland und der Welt über die Jahrzehnte viel Respekt erworben. Der unbequeme Intellektuelle, der sich einmischt, auch politisch - das ist ein sehr westliches Konzept, sagt Markus Wernhard, der Leiter des Goethe-Instituts in Taipeh: "Diese Haltung von Grass, sich auch in die Politik aktiv einzumischen oder Stellung zu beziehen, das ist in Ostasien nicht so ausgeprägt. Auch in Taiwan fehlt das ein bisschen. Vielleicht ist das Anlass und eine gute Gelegenheit für Schriftsteller, ihre gesellschaftliche Haltung zu überdenken."

Markus Wernhard (1 . v. r.): Grass legt "Finger in offene Wunden der Gesellschaft" (Foto: Bardenhagen/DW)
Markus Wernhard (1 . v. r.): Grass legt "Finger in offene Wunden der Gesellschaft"Bild: DW

Taiwans unbewältigte Vergangenheit

"Das Publikum der Ausstellung kann vielleicht auch die eigene Geschichte ein bisschen reflektieren", so Professorin Lin-Liu. Einer wie Grass würde auch in Taiwan viele Themen finden, sagt sie. Das Land ist heute zwar eine der wenigen echten Demokratien in Asien. Doch es leidet unter den Nachwirkungen einer jahrzehntelangen Diktatur. Das angeblich "freie China" war bis weit in die 80er Jahre per Kriegsrecht regiert worden. Noch heute ist die Gesellschaft gespalten und eine Aufarbeitung der Vergangenheit hat nur in Ansätzen stattgefunden. Gleichzeitig wird Taiwans Demokratie bedroht von der Volksrepublik China. Über solche Themen spricht die Professorin mit Grass, wenn sie ihn regelmäßig in Deutschland besucht: "Er stellt mir Fragen über Taiwan, über China. Und ich muss antworten. Er ist ganz schön neugierig, auch heute noch."

Von der Israel-Debatte hatten Taiwaner vor allem durch Artikel von Lin-Liu Hui-Ann im Feuilleton der taiwanischen Qualitätszeitung "China Times" erfahren. Für die Professorin war es keine Überraschung, dass der Autor mal wieder nicht vor Kritik zurückschreckte: "Ich kann nur sagen, Grass ist Grass. Wenn man seine Werke liest, dann weiß man, dass er niemals seinen Mund halten wird. Seine Meinung bringt er auch zum Ausdruck. Das ist ein Punkt, den man anerkennen muss. Ich finde, ein Pluspunkt."