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Gleichgewicht des Schreckens

Christina Ruta14. Oktober 2012

Vor 50 Jahren verhinderte das atomare Patt zwischen den USA und der UdSSR, dass die Kubakrise zum Atomkrieg wurde. Heute gibt es viele Atommächte mit unterschiedlichen Interessen. Wie stabil ist die neue Weltordnung?

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Ein Atompilz steigt nach der Explosion einer Atombombe 1971 über der französischen Pazifikinsel Mururoa in die Höhe (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/dpa

Die Welt hielt den Atem an, als sich am 14. Oktober 1962 die Befürchtungen der USA bestätigten: Die Sowjetunion hatte Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen auf der Karibikinsel Kuba stationiert - knapp 200 Kilometer vom amerikanischen Bundesstaat Florida entfernt. Damit bedrohten die Sowjets nicht nur den US-Militärstützpunkt Guantánamo auf der Insel, sondern unmittelbar auch die bevölkerungsreiche Ostküste der Vereinigten Staaten. Als US-Präsident John F. Kennedy in einer Fernsehansprache am 22. Oktober den bedingungslosen Abzug der Raketen forderte, standen die strategischen Luftstreitkräfte der USA bereits auf "Defense Condition 2" - einer Stufe unterhalb der Eröffnung der Kampfhandlungen. Die Welt stand wahrscheinlich nie so nahe vor einem Atomkrieg wie damals.

Dass der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow am 28. Oktober einlenkte und die Kubakrise nicht in ein nukleares Desaster endete, begründen Experten vor allem mit der atomaren Pattsituation zwischen den USA und der UdSSR, den beiden bestimmenden Größen der damaligen Weltordnung. Keine der beiden Supermächte konnte sich sicher sein, dass der Gegner nach einem atomaren Angriff nicht doch noch über die Fähigkeit zum Zweitschlag verfügte. Die jahrzehntelange nukleare Aufrüstung hatte damit auch eine stabilisierende Wirkung.

Viele Atommächte und aggressive RhetorikDieses "Gleichgewicht des Schreckens" gibt es seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr, erklärt Reinhard Meier-Walser, Honorarprofessor für Internationale Politik an der Universität Regensburg: "Wir haben heute das Problem der horizontalen Proliferation, das heißt, dass zwar die großen Nuklearmächte abrüsten, aber neue Nuklearmächte dazu kommen und wir nicht wissen, ob sie sich mit Sicherheit abschrecken lassen", sagt Meier-Walser im Gespräch mit der DW.

Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un (Foto: AFP/Getty Images)
Ist sich Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un seiner Verantwortung bewusst?Bild: AFP/Getty Images

Neben den "offiziellen" Atommächten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China verfügen nicht nur Israel und Indien, sondern auch das politisch instabile Pakistan und das autokratische Nordkorea über "die Bombe". Der nordkoreanische Vizeaußenminister Pak Kil Yon drohte erst Ende September in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung damit, dass ein "Funken" einen Atomkrieg auf der nordkoreanischen Halbinsel auslösen könnte. Und auch der Iran, der anders als die anderen vier "inoffiziellen" Atommächte den Atomwaffensperrvertrag von 1968 unterzeichnet hat, lässt sich offenbar nicht von seinem umstrittenen Atomprogramm abhalten - genauso wenig wie von seiner aggressiven Rhetorik gegenüber Israel. Greift die Logik der Abschreckung heute überhaupt noch?

Wettrüsten um Vorherrschaft im Mittleren OstenAtomwaffen bergen immer ein unberechenbares Risiko und man könne nie wissen, wie rational sich nuklear bewaffnete Staaten letztendlich verhalten, meint Annette Schaper, Expertin für Sicherheits- und Weltordnungspolitik von Staaten an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung HSFK. Dennoch hält sie es für unwahrscheinlich, dass Nordkorea oder der Iran, sollte er eines Tages Atomwaffen besitzen, einen nuklearen Erstschlag wagen würden, eben weil sie mit Gegenschlägen rechnen müssten. Bei beiden Staaten handele es sich um undemokratische, international isolierte Staaten - Nordkoreas Wirtschaftssystem funktioniere darüber hinaus nicht. "In einer solchen Situation beginnen isolierte Staaten oft, nach außen aggressiv aufzutreten, um die äußere Bedrohung zu instrumentalisieren", sagt Schaper. So hofften sie darauf, dass sie anderen Staaten gegenüber ihre Interessen besser durchsetzen könnten und sich der gemeinsame äußere Feind stabilisierend im Inneren auswirke. Um Machtstreben, Prestige und vor allem die regionale Vorherrschaft gehe es insbesondere dem Iran bei seinem Atomprogramm. Wie andere Experten sieht Annette Schaper die Gefahr, dass sich Staaten wie Saudi-Arabien durch einen nuklear aufrüstenden Iran bedroht fühlten und ein Wettrüsten in der ohnehin instabilen Region beginnen könnte.

Irans Regierungschef Mahmud Ahmadinedschad (Foto: AFP/Getty Images)
Irans streitbarer Regierungschef Mahmud AhmadinedschadBild: AFP/Getty Images

Bereits jetzt ist der Iran von fünf Atommächten umgeben. Damit kommt auch Abschreckung als Motiv für die iranischen Nuklearambitionen in Frage, wie Reinhard Meier-Walser von der Universität Regensburg erläutert. Er verweist auf die Befürchtung vieler Staaten, dass der Iran eines Tages nukleare Ausrüstung oder Know-how an militante islamistische Organisationen wie die Hisbollah oder die Hamas, weitergeben könnte, die der Iran offen unterstützt.

Pakistan und Indien sind nicht auf AugenhöheAtomwaffen in der Hand von Terroristen - das ist auch ein Horrorszenario mit Blick auf Pakistan. Das Netzwerk um den pakistischen Ingenieur Abdul Qadeer Khan hat über Jahre Nukleartechnologie und -Know-how weitergegeben. "Das pakistanische Verhalten ist wirklich katastrophal gewesen: Alle geheimen Anreicherungsanlagen im Iran, früher im Irak und sogar in Libyen stammen aus dem Netzwerk der Pakistaner", erklärt Annette Schaper. Auch selbst rüstet Pakistan, das sich seit seiner Entstehung aus Britisch-Indien 1947 in Konflikt mit Indien befindet, stark auf. Der Rüstungswettlauf zwischen den beiden Staaten erinnere fast ein bisschen an den Ost-West-Konflikt. Schaper weist aber auch auf Unterschiede hin: So sind Indien und Pakistan direkte Nachbarn und stehen in einem Territorialkonflikt um Kaschmir. Außerdem ist die Beziehung zwischen dem wirtschaftlich aufstrebenden und international respektierten Indien und dem instabilen Pakistan sehr asymmetrisch.

Test der pakistanischen Mittelstreckenrakete HATF-IV (Foto: dpa)
Test der pakistanischen Mittelstreckenrakete HATF-IVBild: picture alliance/dpa

Unterschiede zum Wettrüsten während des Kalten Krieges betont auch Reinhard Meier-Walser: "Das Funktionieren der Abschreckung war an eine ganze Reihe von Voraussetzungen geknüpft. Diese Voraussetzungen sind heute nicht mehr oder nicht mehr zur Gänze gegeben - zum Beispiel große konventionelle Potentiale." So bestehe die Gefahr, dass Staaten wie Pakistan oder Iran bei einer Krise nur die Wahl hätten zwischen dem Einlenken und dem Einsatz von Nuklearwaffen, da ihre konventionellen Waffen nicht ausreichten, um den Gegner zu schlagen. Für Meier-Walser kann die Lösung demnach nur in einer mittelfristigen Abrüstung aller Staaten bestehen.

Das sieht Annette Schaper ähnlich: "Während der Kubakrise ist ja offensichtlich keiner durchgedreht, das hat die Welt gerettet. Es könnte aber ebenso gut jemand am Drücker sitzen, den wir gar nicht kennen und der eben anders reagiert", so die Expertin.