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"Für Salafisten schwärmen"

Andrea Grunau13. Juni 2015

Junge Menschen aus gewaltbereiten islamistischen Gruppierungen lösen, dabei will die Beratungsstelle Hayat helfen. Wie das geht und wer gefährdet ist, erläutert Hayat-Leiterin Claudia Dantschke im DW-Interview.

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Broschüren des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der Beratungsstelle Hayat (Foto: DW/A. Grunau)
Bild: DW/A. Grunau

Deutsche Welle: Sie haben jetzt auch in Bonn, das als Salafisten-Hochburg gilt, eine Anlaufstelle. Was ist das Ziel der Beratungsstelle "Hayat"?

Claudia Dantschke: Wir wollen Angehörigen helfen - meist sind es Eltern -, ihre Kinder vom radikalen Weg wieder abzubringen. In 70 Prozent aller Fälle suchen die Mütter Hilfe.

Behörden berichten von 50 Prozent Konvertiten bei radikalisierten Jugendlichen. Welche Eltern melden sich bei Ihnen?

Jede Art von Eltern: mit herkunftsdeutschem Hintergrund, mit Migrationshintergrund muslimisch oder nicht-muslimisch, weltliche Familien und konservativ religiöse. Es gibt keine Art von Familie, die nicht betroffen sein könnte. Ich hoffe, dass es uns in Bonn gelingt, mit unserem Mitarbeiter, der selbst praktizierender Muslim ist, noch mehr in konservative muslimische Milieus vorzudringen. Sie vertrauen oft lieber dem Imam der Nachbarmoschee als einer staatlichen Institution oder einer nicht-muslimischen Nichtregierungsorganisation. Die Eltern haben alle Angst um ihre Kinder, aber sie haben auch Angst, dass sofort die Reaktion kommt: "Ihr seid daran schuld und der Islam." Es ist wichtig, Vertrauen aufzubauen und zu helfen.

Wann sind Jugendliche anfällig für islamistische Extremisten?

Wir haben zunächst beobachtet, dass das Hauptalter zwischen 17 und 27 Jahren liegt, wenn man anfängt, sich vom Elternhaus abzunabeln. Viele schaffen es nicht, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dazu kommt oft das Gefühl, nicht gebraucht und nicht wertgeschätzt zu werden. Durch den Dschihadismus, den sogenannten "Islamischen Staat" und die Kämpfe in Syrien, spielen inzwischen andere Dinge mit: Hass, Frust und der Wunsch nach Aktion. Dadurch rutscht die Radikalisierung ins pubertäre Alter: "Ich zeig's euch allen." Da geht es um extreme Männlichkeitsbilder. In dieser Jugendkultur haben wir Großmäuler, die mit den Muskeln spielen wollen. Die Ideologie ist dünn, aber die Gefahr, dass sie nach Syrien ausreisen, trotzdem hoch.

Porträt Claudia Dantschke (Foto: DW/A. Grunau)
Claudia Dantschke, Hayat DeutschlandBild: DW/A. Grunau

Wo es in den politischen Salafismus geht, in eine freiheitsfeindliche Ideologie, die sich radikal gegen diese Gesellschaft wendet, findet man eher die Älteren und Intellektuelleren, so ab 17, 18 Jahren. Auch sie sind eine Gefahr für diese Gesellschaft.

Wie werden die Jugendlichen angeworben?

Die salafistischen radikalen Prediger sind uns ein paar Jahre voraus. Sie wissen, was die Jugendlichen bewegt. Viele sind wie große Brüder, denn sie sind den Weg der Radikalisierung selbst gegangen. Sie sprechen Jugendliche in ihrer Sprache an, philosophieren nicht über ihren Kopf hinweg und kennen die Bedürfnisse. Es ist ein globales Angebot für jeden, denn es gibt nur die eine Identität Muslim: "Es spielt keine Rolle, wer deine Eltern sind, ob sie einen Migrationshintergrund haben, ob sie reich oder arm sind. Nur du zählst und nicht dein ganzer familiärer Background." Das gibt es im Moment kaum woanders. "Du kannst protestieren, diese Gesellschaft infrage stellen." In dieser Szene wird viel geboten, was für Jugendliche attraktiv ist. Wir müssen den Jugendlichen das auch bieten: Die Möglichkeit, die Gesellschaft kritisch zu hinterfragen, aber eben mit demokratischen Mitteln.

Die Gruppe der radikalisierten Mädchen wird immer größer, was zieht die an?

Bei uns betreffen 30 Prozent der Beratungsanfragen Mädchen und junge Frauen. Bei den Ausreisen nach Syrien waren es 10 Prozent, aber das wächst. Wir schätzen, dass es mindestens 15, vielleicht sogar 20 Prozent sind. Es sind Mädchen jeder Herkunft und ganz verschiedene Typen. Es gibt auch Frauen, die Geschichte schreiben wollen und die Ideologie verbreiten.

Wir haben aber auch pubertierende Girlies, für die die Dschihad-Kämpfer in Syrien die neuen Popstars sind: Die also nicht mehr für Justin Bieber schwärmen, sondern für Salafisten wie den Ex-Rapper Deso Dogg, Denis Cuspert, und andere, die im Internet als "wahre Kämpfer" auftreten.

Symbolbild Islamisten in Deutschland
Ex-Rapper Denis Cuspert (2.v.li.) inmitten betender Salafisten in Bonn (Archivbild 2012)Bild: picture-alliance/dpa

Wir haben auch Mädchen aus einem konservativ muslimischen Milieu, wo der Vater das Patriarchat mit dem Islam begründet. Sein Sohn darf alles, die Tochter nichts und findet das ungerecht. In diesen Familien hat ein Mädchen kaum die Chance, sich zu emanzipieren. Von den Salafisten lernt sie, dass der Bruder auch nicht alles darf: "Was dein Vater als Islam versteht, ist verkehrt. Dein Bruder dürfte auch nicht in die Disco, auf Klassenfahrt oder in den koedukativen Unterricht." Damit rutscht das Mädchen auf eine Ebene wie der Bruder. Sie kommt zum Vater und sagt: "Ich erkläre dir jetzt den Islam." Der Vater ist begeistert: "Meine Tochter ist eine Gelehrte, weil sie das religiös begründet." Für solche Mädchen ist das attraktiv, vordergründig emanzipieren sie sich und verlieren zunächst auch nicht ihre Familie.

Dann gibt es noch den Typ junger Frauen, die emanzipiert aufgewachsen sind, aber das Gefühl haben: "Ich schaff' das nicht, als Frau anerkannt zu werden, wenn ich Mutter bin, Hausfrau, und auch noch arbeiten muss." Diese Frauen sehnen sich nach einer traditionellen Rolle: "Ich möchte einen Mann, den will ich bekochen, dazu ein paar Kinder, und dafür will ich geachtet werden." Wir haben ganz unterschiedliche Frauentypen, die ausreisen.

Müssen sich die Familien, die Sie beraten, verändern?

Ja, ganz stark. Die Beratung setzt bei den Eltern an, bei ihrem Verhalten. Wenn eine Sehnsucht nach Religion zutage tritt, ist es wichtig, Interesse zu haben, mit welcher Gruppe das Kind umgeht. Man sollte zuhören, kommunizieren und differenzieren. Nicht alles abwehren nach dem Motto: "Der Islam ist ganz schlimm", sondern mal mit in die Moschee gehen, um einen Einblick zu bekommen, aber ehrlich die eigene Meinung sagen. Wir raten: "Fangen Sie nicht an, alles toll zu finden. Seien Sie authentisch, sagen Sie, was Sie komisch finden, aber als Frage, als offener Diskurs." Das gilt auch für Lehrer, für jede Bezugsperson.

Wenn das Kind noch in der Anfangsphase ist, sieht es das Interesse, fängt an zu diskutieren. Durch Fragen muss der Jugendliche eigene Antworten entwickeln und selbst nachdenken. Das ist das Ziel. Es kommen immer vorgestanzte Antworten, aber irgendwann sind die am Ende und wenn ich klug nachfrage, gibt es vielleicht erst Abwehr - das ist ein Machtspiel -, aber irgendwann fängt der Jugendliche an, eigene Antworten zu suchen, was er wirklich will. Dahin müssen wir kommen. Familien müssen Jugendliche aktivieren, einbeziehen und ihnen mehr Möglichkeiten geben. Das gilt auch für die Gesellschaft, die Schule ebenso wie die Moscheegemeinde.

Claudia Dantschke ist Leiterin von Hayat Deutschland. Hayat (Türkisch und Arabisch für "Leben") berät Eltern, Lehrer und andere Kontaktpersonen von Menschen, die sich salafistisch radikalisieren, dem militanten Dschihadismus anschließen und in Konfliktregionen ausreisen. In Bonn, das als Salafisten-Hochburg gilt, finanziert die Bundesregierung jetzt eine neue Hayat-Beratungsstelle.

Das Interview führte Andrea Grunau.