1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gerechtigkeit für Ghetto-Arbeiter

Marc von Lüpke-Schwarz23. März 2014

Bis heute kämpfen viele ehemalige Ghetto-Arbeiter um ihre vollen Rentenansprüche. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles verspricht nun eine schnelle und unkomplizierte Lösung.

https://p.dw.com/p/1BRSa
Zugang zum Ghetto in Lodz 1942 (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/akg-images

Grausame Zustände herrschten 1940 in der polnischen Hauptstadt Warschau. Weit über 300.000 Juden pferchten die deutschen Machthaber seit November in einem kleinen Stadtteil zusammen. "Die Straßen sind so übervölkert, daß man nur schwer vorwärts gelangt", schilderte der Mediziner Ludwik Hirszfeld, der selbst als Jude im Ghetto leben musste, die dortigen Lebensumstände. "Alle sind zerlumpt, in Fetzen. Oft besitzt man nicht mal mehr ein Hemd. Überall ist Lärm und Geschrei. Dünne, jämmerliche Kinderstimmen übertönen den Krach." Durch Arbeit versuchten viele Bewohner des Warschauer Ghettos, ihre Lebensbedingungen zu verbessern - genau wie in hunderten anderen Zwangswohnbezirken, die die Deutschen errichtet hatten.

"Merkmale eines ordentlichen Arbeitsverhältnisses"

Wer in den Ghettos arbeitete, bekam Geld oder andere lebenswichtige Dinge wie Lebensmittel als Bezahlung - wenn auch nur sehr wenig. Dennoch erwarben die Ghetto-Arbeiter dadurch aber Ansprüche gegen den deutschen Staat - auf eine sogenannte Ghettorente. "Das ist eine Rente für Menschen, die im Ghetto gearbeitet haben", erklärt die Berliner Rechtsanwältin Simona Reppenhagen, die rund 3000 ehemalige Ghetto-Arbeiter vertritt. "Erst in den 1990er Jahren hatte man festgestellt, dass die Ghetto-Arbeit tatsächlich sozialversicherungspflichtig war, und dass für diese Arbeiter in der Tat solche Beiträge abgeführt worden waren."

Die Berliner Rechtsanwältin Simona Reppenhagen (Foto: DW/Marc von Lüpke-Schwarz)
Die Berliner Rechtsanwältin Simona Reppenhagen vertritt rund 3000 ehemalige Ghetto-ArbeiterBild: privat

Mit der Auszahlung der Ghetto-Renten tat sich der deutsche Staat allerdings lange Zeit schwer. Erst die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder verabschiedete 2002 das sogenannte Ghettorentengesetz, wonach ehemaligen Ghetto-Arbeitern ab 1997 Rentenzahlungen zustehen sollten. Die Bundesregierung folgte dabei einem Urteil des Bundessozialgerichts zum Ghetto Lodz, wonach auch die Arbeit in einem Ghetto "Merkmale eines ordentlichen Arbeitsverhältnisses aufweisen" würde.

Bewohner des Ghetto Lodz bei der Arbeit in einer Werkstatt (Foto: picture alliance)
Bewohner des Ghetto Lodz bei der Arbeit in einer WerkstattBild: picture-alliance/akg-images

Kampf um die Renten

Damit kamen die ehemaligen Ghetto-Arbeiter allerdings noch lange nicht zu ihrem Recht. "Die Rentenversicherungsanstalt hat das Ghettorentengesetz sehr restriktiv ausgelegt", sagt Simona Reppenhagen. Und wird noch deutlicher: "Man hat den Antragstellern bis 2009 überhaupt nicht geglaubt". Eine Ablehnungsquote von nahezu 95 Prozent der Rentenanträge von Ghetto-Arbeitern belegt dies. Auch vor den Sozialgerichten gingen die meisten klagenden Ghetto-Arbeiter leer aus. Zahlreiche bürokratische Hindernisse wurden ihnen in den Weg gestellt. Tatsächlich wurde die "freiwillige" Ghetto-Arbeit oft mit einer erzwungenen Zwangsarbeit gleichgesetzt - und Anträge auf eine Ghettorente aus diesem oder anderen Gründen schlichtweg abgelehnt. "Ghetto-Arbeiter haben aber eine Art regulärer Arbeit unter irregulären Bedingungen geleistet", fasst Reppenhagen den Stand der historischen Forschung zusammen. "Irregulär war zum Beispiel, dass diese Menschen in einem Ghetto leben mussten. Das ist aber mit Zwangsarbeit wie später zum Beispiel in einem Konzentrations- oder Zwangsarbeiterlager nicht zu vergleichen."

Erst 2009 passte das Bundessozialgericht seine Rechtsprechung dieser Realität an, so dass nun viele Ghetto-Arbeiter ihre abgelehnten Ansprüche auf Rente endlich durchsetzen konnten. Allerdings nur rückwirkend bis 2005 und nicht, wie im Ghettorentengesetz eigentlich vorgesehen, bis 1997. Das Bundessozialgesetz sieht eine rückwirkende Zahlung von nur vier Jahren vor. Gut 38.000 von knapp 50.000 Beziehern einer Ghettorente, so berichtete die Tageszeitung "Die Welt", erhalten demnach zu wenig Geld.

Bundesarbeitsministerin Andreas Nahles im Gespräch mit ihrem israelischen Amtskollegen Naftali Bennett in Jerusalem (Foto: dpa)
Bundesarbeitsministerin Andreas Nahles im Gespräch mit ihrem israelischen Amtskollegen Naftali BennettBild: picture-alliance/dpa

Die Reform der Ghettorenten

"Bundessozialministerin Andrea Nahles will mit ihrem Gesetzentwurf die bestehenden und aus ihrer Sicht unzumutbaren Hürden beseitigen: die hier problematische Vier-Jahres-Regelung und die Frage des Stichtages, bis wann ein Antrag gestellt werden konnte", führt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die jetzigen Reformpläne der Bundesregierung aus. Noch vor dem jüdischen Pessachfest, das in diesem Jahr vom 15. bis 22. April gefeiert wird, soll der Gesetzentwurf in das Kabinett eingebracht werden. Simona Reppenhagen ist durchaus optimistisch, dass nun eine befriedigende Lösung getroffen werden kann. Eine Forderung stellt die Anwältin aber: "Jetzt gilt es, schnell zu sein, die Leute sind alt, sie sterben täglich weg. Und viele leben in ärmlichen Verhältnissen an ihrem Lebensabend aufgrund ihrer kaputten Lebens- und Versicherungsbiografie."

Das SPD-geführte Arbeitsministerium jedenfalls schraubt die Erwartungen hoch: "Am Ende steht eine gute Lösung im Sinne der hoch betagten Betroffenen", lautet das Ziel der Reform. Vor allem aber haben die ehemaligen Ghetto-Arbeiter selbst deutlich gemacht, was sie erwarten. "In einer Anhörung haben die meisten von ihnen dargelegt, dass sie keine Entschädigung als Opfer, sondern eine tatsächliche Rente als Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit erwarten", berichtet eine Sprecherin des Ministeriums. Die ehemaligen Ghetto-Arbeiter fordern also nichts weiter als ihr gutes Recht - für viele von ihnen ist es hierfür allerdings bereits zu spät.