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Politik

Genscher in Prag - ein Polit-Krimi

30. September 2019

Schwache Beleuchtung, schlechte Tonqualität, ein unvollständiger Satz. Es sind Sekunden, die die Geschichte beschleunigen. Genschers Prager Balkonrede war ein historischer und ein persönlicher Höhepunkt.

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Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft (Foto: AP)
Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager BotschaftBild: ullstein bild-AP

Die Vorgeschichte

Sommer 1989. Ostdeutsche kehren ihrem Staat den Rücken und suchen Schutz in den Bonner Botschaften in Ungarn, Polen, der ČSSR und auch in der Ständigen Vertretung (StäV) in Ost-Berlin. Erst sind es einige wenige, dann Hunderte, am Ende Tausende, die so versuchen, ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Nach westdeutscher Lesart ein legitimer Akt, denn im Sinne des Grundgesetzes sind sie Deutsche. In Ungarn regieren Reformsozialisten, das Land steht vor einer wirtschaftlichen Pleite. Die Budapester Regierung schlägt einen neuen Kurs ein. Konsequenz: Die ungarisch-österreichische Grenze wird nur noch halbherzig bewacht.

Am 11. September wechseln Zehntausende DDR-Bürger die Seiten und lassen den einst unüberwindlichen Eisernen Vorhang hinter sich. Ungarns Grenzer stehen nur noch Spalier. Erich Honecker und seine Regierung sind entsetzt. Und auch die Machthaber in der ČSSR denken und handeln nach altem Recht. Wie für die DDR-Führung sind die Botschaftsbesetzungen für die Prager Machthaber rechtswidrig. Der Konsens innerhalb des Moskauer Machtimperiums bröckelt. Noch niemand überschaut in diesem Spätsommer '89 die Tragweite der Proteste mit den Füßen. Einer will es aber geahnt haben: Hans-Dietrich Genscher, der bundesdeutsche Außenminister. Er selbst war als junger Mann aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtet.

1989 Botschaft Prag Massenflucht Zelte; (Foto: dpa)
Der Garten der Prager Botschaft: eine ZeltstadtBild: picture-alliance/dpa

Tatort New York, Erster Akt, 27. September 1989

UN-Vollversammlung. Eine ideale Gelegenheit für den Außenminister, mit seinen Amtskollegen aus der Sowjetunion, der DDR und der Tschechoslowakei über die immer dramatischer werdende Situation in den Botschaften zu sprechen. Erst am 8. September hatten 117 DDR-Bürger die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin verlassen. Eine baldige Ausreise wurde ihnen nicht versprochen, lediglich Straffreiheit und die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz.

Die StäV bleibt seitdem geschlossen. Die Folge: Der Druck auf die Botschaften in Warschau, Budapest und Prag wird größer. Und die DDR erwartet von der Bonner Regierung Kohl nichts weniger als die Schließung der dortigen Botschaften, um gegen potenziell Ausreisewillige ein Signal zu setzen. Zuständig für die Auslandsvertretungen ist Genscher - alias "Genschman", wie der deutsche Außenminister umgangsprachlich genannt wird - und er lehnt die Schließungen kategorisch ab. Er ordnet stattdessen die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der DDR-Bürger an. Inzwischen sind Tausende in den drei Botschaften eingetroffen.

Am 27. September, einem Mittwoch, isst Genscher mit seinem Ost-Berliner Amtskollegen Oskar Fischer zu Abend. Er macht zwei Vorschläge: DDR-Beamte erteilen Ausreisegenehmigungen und stempeln die Pässe in den Botschaften ab. Variante zwei: Die DDR-Bürger reisen in Zügen über ostdeutsches Gebiet in den Westen. Fischer will darüber am Wochenende Honecker informieren. Zu spät, sagt Genscher.

28. September

Am folgenden Tag telefonieren Genscher und Fischer erneut. In den Botschaftsgebäuden, vor allem in Prag, werden die hygienischen Zustände immer unerträglicher. Fischer verspricht, Genschers Vorschläge nach Ost-Berlin weiterzuleiten. Auch der tschechoslowakische Außenminister Johanes wird von Genscher in New York aufgesucht. Doch der bleibt unverbindlich.

Am Nachmittag bittet Genscher um ein persönliches Gespräch mit Eduard Schewardnadse, dem sowjetischen Außenminister. Er möge in die sowjetische Botschaft kommen, wird ihm zurückgemeldet. Doch Genscher steht kein Wagen zur Verfügung. Ein New Yorker Polizeiauto bringt den Deutschen dann mit Blaulicht und Sirene zu Schewardnadse. Dort angekommen, schildert Genscher die chaotischen Zustände in den Botschaften. Schewardnadse fragt: "Sind Kinder dabei?" Genscher: "Viele". Darauf der Sowjet: "Ich helfe Ihnen".

Noch am gleichen Abend sichert sich Genscher die Unterstützung der amerikanischen und französischen Außenminister Baker und Dumas.

29. September

Genscher ist auf dem Weg zum Flughafen, da erreicht ihn ein Anruf im Auftrag des DDR-Außenministers. Es gebe wichtige Informationen am Tag darauf in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn für ihn. "Es lohne sich immer", so lässt der Anrufer vom Ost-Berliner Außenminister Oskar Fischer ausrichten, "mit ihm zu sprechen."

Balkon-Galerie Hans-Dietrich Genscher in der Deutschen Botschaft  in Prag 2009
Hans-Dietrich Genscher in der Deutschen Botschaft in Prag 2009 Bild: picture alliance/dpa/R. Hirschberger

30. September

Im Bonner Kanzleramt erfahren Genscher und Rudolf Seiters, der bundesdeutsche Innenminister, dass sich Ost-Berlin für die zweite Variante entschieden hat: Zugfahrt der Ausreisewilligen durch die DDR. Genscher legt nach und fordert hochkarätige Zugbegleitung als vertrauensbildende Maßnahme für die DDR-Bürger. "Die Flüchtlinge vertrauen Ihnen nicht", sagt er dem Ständigen Vertreter Ost-Berlins in Bonn, Horst Neubauer. Genscher und Seiters wollen selbst mitfahren. Ost-Berlins Mann in Bonn muss noch einmal bei seiner Regierung nachfragen. Wenig später liegt die Genehmigung vor.

Kurz vor dem Start Genschers und Seiters' Richtung Prag meldet sich Neubauer und widerruft die Zusage Ost-Berlins in Teilen. Genscher und Seiters dürfen nicht mitreisen. Der Druck steigt.

Palais Lobkowitz, zweiter Akt: Showdown um 18.58 Uhr

In der Bonner Botschaft in Prag angekommen, nimmt Genscher erneut Kontakt mit Neubauer auf. Es bleibt beim Nein Ost-Berlins. Nur zwei bundesdeutsche Beamte dürfen pro Zug mitreisen.

Um 18.58 Uhr tritt Genscher auf den Botschaftsbalkon und spricht den wohl berühmtesten Halbsatz der jüngeren deutschen Geschichte: "Liebe Landsleute, wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…" Der Rest geht im Jubel unter.

Um 19.30 Uhr verlassen die ersten Ostdeutschen die Botschaft im historischen Palais Lobkowitz. Schon drei Minuten zuvor hatte die staatliche Nachrichtenagentur der DDR, ADN, eine Erklärung des Ost-Berliner Außenministeriums verbreitet. Man habe veranlasst, die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD aufhaltenden Personen aus humanitären Gründen auszuweisen.

Um 20.50 Uhr verlässt der erste Reichsbahnzug Prag Richtung Dresden. Vier weitere Züge folgen im Zweistundentakt. Ziel ist das bayerische Hof.

Genscher in Prag: "Wir sind gekommen..."

Bahnhof Hof, Gleis 8, dritter Akt, 1. Oktober

Es ist 6.14 Uhr als die ersten 1.200 Ostdeutschen im bayerisch-sächsischen Grenzort Hof auf Gleis 8 ankommen, darunter viele Kinder. Rund 6.000 Menschen erreichen an diesem 1. Oktober Hof. Sie alle kommen ohne Pässe. Die hatten ihnen DDR-Beamte im Zug abgenommen. Heerscharen von Helfern und Journalisten erwarten sie.

Ein paar Tausend DDR-Bürger hatten ihren Staat vorgeführt. Eine Abstimmung mit den Füßen. Sechs Wochen später fiel die Mauer.

"Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag gehören, so Hans-Dietrich Genscher im Rückblick, "zu den bewegendsten meines Lebens...wir hatten pure Gänsehaut."

Mit dem Sonderzug von Prag

Porträt eines Mannes mit Mittelscheitel und Bart
Volker Wagener Redakteur und Autor der DW Programs for Europe