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Geldlos glücklich

Christina Beyert21. März 2012

Essen aus der Mülltonne, kein Bankkonto und Wohnraum im Tausch gegen handwerkliche Dienste. Raphael Fellmer lebt mit seiner Familie ohne Geld. Er bezeichnet sich dennoch als "vermögend".

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Raphael Fellmer mit seiner Tochter Copyright: DW/Christina Beyert
Raphael Fellmer ist glücklich ohne GeldBild: DW

Die weltweite Wirtschaftskrise flößt Raphael Fellmer aus Kleinmachnow in Brandenburg keine Angst ein. Der 28-Jährige lebt mit seiner Frau Nieves und seiner fünf Monate alten Tochter Alma Lucia ohne Geld - fast. Ihre Souterrainwohnung wird der kleinen Familie vom Hausbesitzer zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung hilft Raphael Fellmer bei der Gartenarbeit oder bei Reparaturen. Was den Strom und Wasserverbrauch anbelangt, den der Hausbesitzer auch übernimmt, ist die junge Familie sehr sparsam. Licht schalten sie nur kurzzeitig an. Geheizt wird kaum und für die Toilettenspülung benutzen sie gesammeltes Abwaschwasser.

Essen im Überfluss

Für Essen und Trinken ist in dem kleinen Haushalt stets gesorgt. "Ich rette Lebensmittel vor der Vernichtung", sagt Fellmer, der überzeugter Veganer ist. Mehrmals in der Woche steigt er nachts auf sein Fahrrad und fährt zu den Abfalltonnen großer Biomärkte.

Beim sogenannten "Containern" kommen wahre Schätze zutage. "Meine Familie und ich leben vom Feinsten. Wir haben alle Sorten von Obst und Gemüse, edle Öle, wertvolle Gewürze", sagt er. All das landet im Müll. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber für ihn nicht nachvollziehbar. "In unserer Überflussgesellschaft muss alles frisch aussehen. Manche Obst- und Gemüsesorten bleiben nur einen Tag im Regal, damit am nächsten Morgen alles wieder frisch aussieht. Hochwertige Lebensmittel landen sogar in der Tonne, wenn die Verpackung nur geringfügig beschädigt ist. Verfallsdaten sind zu früh angesetzt."

Raphael Fellmer mit Lebensmitteln aus dem Müllcontainer Copyright: DW/Christina Beyert Kleinmachnow, März, 2012
"Gerettete" LebensmittelBild: DW

"Containern" ist eine Straftat

Das "Containern“ fällt juristisch unter den Tatbestand Hausfriedensbruch und Diebstahl und ist somit strafbar. Dennoch gibt es immer mehr dieser "Mülltaucher". Fellmer fischt so viele Lebensmittel aus der Tonne, dass er auch noch einiges davon an Nachbarn und Freunde verteilt. "So kann ich diesen Menschen zeigen, was in unserer Überflussgesellschaft mit Nahrung geschieht."

Erst kürzlich legte eine Studie der Universität Stuttgart offen, wieviel Nahrungsmittel hierzulande weggeworfen werden. In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung von Verbraucherschutzministerin Aigner. Danach landen allein in Deutschland jährlich elf Millionen Tonnen verzehrfähiger Lebensmittel im Müll. Industrie, Handel und Großverbraucher verursachen demnach knapp 40 Prozent der Abfälle. Der Rest stammt aus Privathaushalten. Die Studie besagt weiterhin, dass etwa die Hälfte dieser Abfälle vermeidbar ist.

"Reise der Erkenntnis"

Zu Geld hatte Raphael Fellmer schon immer ein eher negatives Verhältnis. "Geld korrumpiert unsere Herzen und macht unsere Beziehungen zu den Menschen und der Natur kaputt." Endgültig verzichtet auf das Zahlungsmittel hat er vor zwei Jahren. Während seines Studiums der Europapolitik im niederländischen Den Haag beschloss er, zusammen mit einigen Freunden ein Experiment zu wagen. Sie wollten nach Mexiko zur Weltklimakonferenz reisen, ohne einen Cent auszugeben.

Sie trampten durch Belgien, Frankreich und Spanien und verdienten sich an Bord von Fähren und Segelbooten die Überfahrt. Sie kamen nach elf Monaten in Mexiko an. Auf dieser "Reise der Erkenntnis", wie Raphael Fellmer sie nennt, beschloss er, ohne Geld weiter zu leben. Er bezeichnet sich selbst als "glücklichen und vermögenden Menschen". „Ich kann das tun, wo ich mit dem Herzen dabei bin. So habe ich zum Beispiel genug Zeit für meine Familie und Freunde.“

Ohne einen Cent von Europa nach Mexiko (Leben ohne Geld), März 2012; Copyright: Raphael Fellmer
Ohne einen Cent von Europa nach MexikoBild: Raphael Fellmer

Geldlos leben - eine Utopie?

Doch ist ein Leben ohne Geld auch für größere Gruppen in der westlichen Gesellschaft überhaupt möglich? Professorin Margrit Kennedy, Architektin, Ökologin und Schriftstellerin, kam schon in den 1980er Jahren zu dem Schluss, dass Fehler im derzeitigen Geldsystem die breite Anwendung von ökologischen Prinzipien verhindern. Als Ursache wies sie auf das stetige Anwachsen der in Umlauf befindliche Geldmenge hin - zum Beispiel durch das Anfallen von Zins und Zinsenzins.

"Wir haben viel mehr Geld, als wir brauchen. Und es ist ungerecht verteilt", sagt die 71-Jährige. Deshalb glaubt sie, dass dieses System vor dem Kollaps steht. "Menschen wie Raphael Fellmer können durch ihr Leben die Dominanz des Geldes in Frage stellen." Aber so ganz ohne das Zahlungsmittel zu leben ist noch nicht möglich, so Kennedy. "Es bedarf noch verschiedener Lernschritte dazwischen."

Die Kapitalismuskritikerin Margrit Kennedy Copyright: Margrit Kennedy März, 2012
Die Kapitalismuskritikerin Margrit KennedyBild: NDR/Christian Wyrwa

Eine Möglichkeit könnten sogenannte Tauschringe sein, die es weltweit schon vielfach gibt. Margrit Kennedy berichtet von einem Armenviertel in der Nähe von Fortalezza in Brasilien. Dort entschlossen sich die Bewohner, einen Großteil der Waren, die sie zum Leben brauchen, innerhalb des Viertels zu tauschen. Anderes Beispiel: Ein Projekt in Vorarlberg in Österreich. Dort arbeiten Menschen bei mobilen Haushaltshilfediensten für ältere Personen. Anstelle von Geld erhalten sie Zeitgutschriften. Diese können sie später, wenn sie selber Hilfe benötigen, wieder eintauschen.

Gemeinsam Verantwortung tragen

Das Geld ganz weglassen und den - wie er sagt - "Konsumirrsinn sofort zu stoppen", daran hält Raphael Fellmer eisern fest. Um möglichst viele Menschen mit seiner Idee zu erreichen, nutzt er die Webseite der internationalen Gruppe "Forward the (R)evolution“. Dort werden nicht nur Meinungen ausgetauscht, sondern auch Flashmobs organisiert. Die Mülltaucher präsentieren ihre "geretteten" Lebensmittel und lassen interessierte Menschen davon kosten.

Raphael Fellmer mit seiner Familie. Copyright: DW/Christina Beyert Kleinmachnow, März, 2012
Raphael Fellmer mit seiner FamilieBild: DW

Statt für ein Gehalt zu arbeiten, arbeitet Fellmer für seine Ideale. Per Anhalter reist er durch ganz Deutschland, um seine Vorträge unter anderem an Schulen und Universitäten zu halten. Dass ihn manche Menschen als "Schnorrer oder Spinner" bezeichnen, stört ihn nicht. Er möchte die Menschen zum Nachdenken über ihr Leben in einer von Konsum und Überfluss geprägten Welt anregen. "Jeder Mensch muss Verantwortung tragen für diese Erde. Wir haben nur eine, in der immer noch täglich Menschen an Hunger sterben."

So ganz ohne finanzielle Sicherheit kann der Idealist Fellmer dann aber doch nicht leben. Aus Sorge um Tochter Alma Lucia wird bald geheiratet, um so einer gesetzlichen Familienversicherung beitreten zu können. Bezahlt wird die mit dem staatlichen Kindergeld.