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Gegenwartsliteratur aus Island

14. Oktober 2011

Lange Zeit war Islands Literatur isoliert. Der Produktivität hat das nicht geschadet. Isländische Autoren sind Meister des Geschichtenerzählens. Und zeigen in ihren Texten Mut und Frische zu ganz eigenen Stilrichtungen.

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Musiker auf dem Laugavegur, der Haupt-Einkaufsstraße in Reykjavik 101 (Foto: DW / Nadine Wojcik)
Musiker auf dem LaugavegurBild: DW/N.Wojcik

Gemütlich streift Auđur Jónsdóttir über den Laugavegur, die bekannteste Straße in Reykjavik mit Designergeschäften, Cafés und Touristenläden. Im Schritttempo fahren rostige Klapperkisten und bullige Geländewagen die einspurige Straße entlang, manche mit offenen Fenstern und lauter Musik.

Für die Schriftstellerin ist diese Straße ihr liebster Ort in Reykjavik. "Hier treffe ich besonders am Wochenende immer eine Menge Leute. Man trinkt gemeinsam einen Kaffee oder läuft ein Stück den Laugavegur entlang." Gerade einmal 320.000 Menschen leben in Island. Kein Wunder, dass da jeder jeden kennt - und zwar quer durch alle Milieus. "Jedes Mal wenn ich hier bin, höre ich neue Lebensgeschichten, die mich inspirieren", sagt Auđur Jónsdóttir.

Das Dorf Island

Autorin Audur Jonsdottir im Garten ihres Großvaters Halldor Laxness (Foto: DW / Nadine Wojcik)
Auđur JónsdóttirBild: DW/N.Wojcik

Auđur ist Schriftstellerin, seit sie 25 Jahre alt ist. In Island ist sie eine bekannte, viel gelesene Autorin, ihre Romane und Theaterstücke sind preisgekrönt. Zur Frankfurter Buchmesse erscheint nun zum ersten Mal einer ihrer Romane auf Deutsch. Auch wenn "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt" in Island spiele, sei es dennoch auch über die Insel hinaus interessant, sagt Jónsdóttir. "Wenn ich, wie in diesem Buch, globale Probleme auf das kleine Island übertrage, werden sie so herrlich absurd. Unser Land ist wie ein Dorf, und internationale Themen werden hier irgendwie seltsam."

Island kann tatsächlich mit jeder Menge Besonderheiten aufwarten, jenseits von feuerspeienden Vulkanen und Bankenkrisen. In kaum einem anderen Land der Welt werden, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Bücher geschrieben und gekauft. Rund 400 Schriftsteller zählt der isländische Schriftstellerverband, hinzu kommen 40 Verlage – in Relation zu der geringen Einwohnerzahl eine enorm hohe Dichte. Aber lange blieb man unter sich, sagt der Literaturwissenschaftler und Verleger Kristján Jónasson. "Im europäischen Zusammenhang war lange Zeit die isländische Literatur in keinem wirklichen Dialog, nicht einmal mit den Literaturen des skandinavischen Sprachraums."

Rund 1000 Kilometer vom europäischen Festland entfernt entwickelte sich hier also eine eigene Literaturwelt. In den 1980er Jahren dann starteten isländische Verleger erstmals den Versuch, die Literatur zu exportieren – und überlegten gemeinsam, was ihre Bücher im internationalen Vergleich eigentlich ausmacht. "Das waren dann vor allem Romane, die sehr stark auf die Erzählung selbst orientiert und mit einer großen Erzählfreude und manchmal auch mit einer magischen Note geschrieben waren", sagt Jónasson.

Sagas, Naturlyrik und Stadtromane

Autor Gyrdir Eliasson in seinem Arbeitszimmer in Reykjavik(Foto: DW / Nadine Wojcik)
Gyrđir ElíassonBild: DW/N.Wojcik

Ein kleines Land der großen Geschichtenerzähler – kein romantisches Pathos, sondern tatsächlich historisch gewachsen. Island war bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts eines der ärmsten Länder Europas. Aber von Anfang an auch ein Land mit einer reichen Literaturgeschichte. Einzigartig ist die isländische Saga-Literatur aus dem 13. Jahrhundert. An diese reiche Tradition knüpfen auch heute noch viele isländische Autoren an, wie beispielsweise der viel übersetzte Einar Kárason. Sein neuer Roman "Versöhnung und Groll" führt zurück in das mittelalterliche Island der Sagas.

Aber die isländische Literatur ist weit mehr. Verspielt und lyrisch sind die Naturromane und Kurzgeschichten von Gyrđir Elíasson, bekannt geworden durch sein surrealistisches Buch "Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft" und diesjähriger Träger des Literaturpreises des Nordischen Rates. Hinzu kamen in den 90er Jahren noch freche Stadtromane, begründet durch Hallgrímur Helgasons "101 Reykjavik".

Quer durch alle Genres und Stile

In dem nordischen Inselstaat ist also jedes Genre zu finden. Die Schriftsteller seien sehr produktiv und könnten mit Schubladendenken nichts anfangen, sagt Auđur Jónsdóttir. "Wir haben keine klaren Trennungen. Viele Autoren schreiben Gedichte, Kinderbücher und Romane – vermischen die verschiedenen Stile aber auch und spielen damit." Das gäbe den Texten eine gewisse Frische.

Nachzuspüren ist das auch in Auđur Jónsdóttirs "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt". Der Roman ist alles gleichzeitig: eine Gesellschaftskritik, ein Krimi, eine Identitätssuche. 'Geht nicht' gibt es nicht in Island. Alles ist erlaubt. Vielleicht ist der isolierten Lage des Landes auch dieser selbstbewusste Umgang mit Texten zu verdanken. Weit weg vom internationalen Literaturtrubel können sich die isländischen Schriftsteller ganz auf ihre Bücher konzentrieren. Dabei werden sie übrigens auch vom isländischen Staat unterstützt. Auf Antrag wird jedem Schriftsteller eine Art monatliches Gehalt gezahlt.


Autorin: Nadine Wojcik
Redaktion: Gabriela Schaaf

Auđur Jónsdóttir: "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt", btb Verlag, 288 Seiten, ISBN 978-3442752539, 19,95 Euro.

Einar Kárason: "Versöhnung und Groll", btb Verlag, 192 Seiten, ISBN 978-3442752522, 18,99 Euro.

Gyrđir Elíasson: "Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft", Verlag Walde+Graf, 122 Seiten, ISBN 978-3037740200, 18,95 Euro.

Gyrđir Elíasson: "Am Sandfluss", Verlag Walde+Graf, 137 Seiten, ISBN 978-3037740392, 16,95 Euro.

Hallgrímur Helgason: "101 Reykjavik", Deutscher Taschenbuch Verlag, 448 Seiten, ISBN 978-3423212588, 9,95 Euro.