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Ort der Musik, Ort des Schreckens

Marcel Fürstenau2. September 2014

Wo die Berliner Philharmonie steht, planten die Nazis ab 1940 die Ermordung von Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung, sogenanntem "lebensunwerten Leben". Eine Gedenkstätte erinnert an die "Aktion T 4".

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Der "Euthanasie"-Denk- und Informationsort, im Hintergrund die Philharmonie.
Bild: picture-alliance/dpa

Die Sprache der Täter war verharmlosend und verschleiernd, manchmal sogar verniedlichend. Als "Endlösung" ist die fabrikmäßige Ermordung der europäischen Juden verklausuliert worden. Für die systematische Vernichtung körperlich und geistig Behinderter oder sogenannter Asozialer verwendeten die Nationalsozialisten das Wort "Euthanasie". Die alten Griechen verstanden darunter einen "schönen Tod". In der Nazi-Zeit war "Euthanasie" praktisch gleichbedeutend mit Massenmord. Auf das Konto der selbst ernannten Herrenmenschen gehen geschätzt 300.000 Morde an sogenanntem "lebensunwerten Leben". An das Schicksal der Opfer wird seit Dienstag mit einem Gedenk- und Informationsort vor dem Eingang der Berliner Philharmonie erinnert.

Der Ort ist keineswegs willkürlich gewählt. Exakt an dieser Stelle befand sich in einer prachtvollen Villa die "Zentraldienststelle T 4". Das Kürzel steht für die Postadresse: Tiergartenstraße 4. Hinter der schönen Fassade organisierten und koordinierten mehr als 60 Schreibtischtäter das von 1940 bis Kriegsende umgesetzte "Euthanasie"-Programm, an dem sich auch zahlreiche Wissenschaftler und Ärzte beteiligten. Heute steht an diesem authentischen Ort des Schreckens das Konzerthaus der Berliner Philharmoniker, Anfang der 1960er Jahre errichtet nach Plänen Hans Scharouns. Das Foyer der Spielstätte des weltberühmten Orchesters war die Kulisse für den Festakt zur Übergabe des neuen Gedenkortes.

"Ein Stolperstein für Benjamin"

Für Hartmut Traub war es ein ganz besonderer Tag. Endlich ist der Tod, sind die Umstände des Todes seines Onkels Benjamin Teil des öffentlichen Gedenkens. Bereits im vergangenen Jahr erschien Traubs Buch, in dem er den Lebens- und Leidensweg des Onkels schildert ("Ein Stolperstein für Benjamin"). Der Neffe las beim Festakt ein paar Zeilen daraus vor:

Ein Leichenkeller in der heutigen Gedenkstätte Hadamar.
Ein Leichenkeller in der heutigen Gedenkstätte HadamarBild: picture-alliance/dpa

"Benjamin steht jetzt eingezwängt mit weiteren 63 nackten Männern auf engstem Raum. Die Türen werden geschlossen. Was mag in den eingepferchten Menschen vor sich gehen? Angst, Panik? Was riechen sie? Was hören sie? Mit wem stehen sie dicht bei dicht? Viel Zeit zu reagieren haben sie nicht. Der diensthabende Arzt, Dr. Günter Hennecke, öffnet das Ventil der außerhalb des Raumes deponierten Gasflasche."

So wie Traubs Onkel starben bis August 1941 allein in Hadamar (Hessen) mehr als 10.000 Männer, Frauen und Kinder. Hadamar war eine von sechs Tötungsanstalten der "Aktion T 4". Die Toten wurden anschließend verbrannt. Einer der sogenannten "Brenner" war Hubert Gomerski, der später im Juden-Vernichtungslager Sobibor seine "Arbeit" verrichtete. Bei einer Vernehmung im Februar 1947 schildert er, wie er in Hadamar massenhaft "Euthanasie"-Leichen in die Krematoriumsöfen beförderte:

"Es waren ungefähr 40 bis 60 Stück. Auf einer blechernen Tragbahre wurden sie zum Ofen gebracht. Es dauerte ungefähr 30 bis 40 Minuten, bis eine Leiche verbrannt war. Es wurde tags und nachts gearbeitet, bis die Leichen weg waren."

"Der Arzt machte sie unfruchtbar"

Diese Textstelle findet sich ebenfalls in dem Buch "Ein Stolperstein für Benjamin". Autor Traub hat es allen namenlosen Opfern der NS-"Euthanasie" gewidmet. Auch Sigrid Falkenstein hat ihre Tante Anna Lehnkering dem Vergessen entrissen. Beim Festakt für den Gedenk- und Informationsort vor der Philharmonie skizzierte sie ihr Schicksal in sogenannter Leichter Sprache, die vor allem für Menschen mit Lernschwierigkeiten hilfreich ist. "Also für Menschen wie Anna", betonte die Nichte der Ermordeten:

Anna Lehnkering (l.) mit einer Freundin
Anna Lehnkering (l.) mit einer FreundinBild: Sigrid Falkenstein

"Anna wird 1915 geboren. Sie besucht eine Sonder-Schule. Lesen, Schreiben und Rechnen findet sie schwer. Anna ist sechszehn Jahre alt. Sie lebt zu Hause und arbeitet im Haushalt. Sie spielt gerne mit ihren Brüdern. Sie sagen: Anna ist lieb und freundlich. Im Jahr 1933 gibt es ein Gesetz. In dem steht: Menschen, die körperlich oder geistig behindert sind, sollen keine Kinder bekommen. Diese Menschen müssen zu einem Arzt gehen. Der Arzt macht sie unfruchtbar."

Nur wenige Täter wurden verurteilt

Am 7. März 1940 wird Anna Lehnkering in einer Tötungsanstalt vergast. Wie Benjamin Traub und später Millionen Juden. Menschen mit Behinderung starben als Erste diesen grauenvollen Tod. Für sie gibt es an zahlreichen Orten des Schreckens dezentrale Mahnmale. Dort, wo ihr Tod geplant wurde, kann man sich nun unter freiem Himmel an elf anschaulichen Metallkästen über die "Aktion T 4" informieren und der Opfer gedenken. Audio- und Videoaufnahmen ergänzen die Texte. Eine blau leuchtende Glaswand lenkt schon von Weitem den Blick auf das Denkmal.

Wenige Schritte davon entfernt ist eine unauffällige Gedenkplatte in den Boden eingelassen. Sie liegt dort schon seit 1989. "Ehre den vergessenen Opfern" ist der kurze Text überschrieben. Am Ende steht ein Satz, der nicht nur auf die "Euthanasie"-Morde der Nazis zutrifft: "Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter." Gelesen wurden diese Zeilen in den zurückliegenden 25 Jahren wohl nur von wenigen Konzert-Besuchern der Philharmonie. Ab sofort wird niemand mehr an der "Aktion T 4" vorbeikommen, wenn er sich dem golden glänzenden Scharoun-Bau nähert. Dafür gesorgt haben federführend die Architektin Ursula Wilms, der Künstler Nikolaus Koliusis und der Landschaftsarchitekt Heinz Hallmann.

Kulturstaatministerin Grütters (vorne) und Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit (hinten) legen Blumen nieder. lsozialistischen "Euthanasie-Morde"
Kulturstaatsministerin Grütters (vorne) und Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit (hinten)Bild: picture-alliance/dpa

Staatsministerin warnt vor Sterbehilfe

Den Beschluss für den zentralen Gedenk- und Informationsort hatte der Deutsche Bundestag 2011 gefasst, 71 Jahre nach dem Beginn des "Euthanasie"-Programms. Die Nazis hätten sich angemaßt, das einzelne Leben nach "Nützlichkeit" und "Brauchbarkeit" zu beurteilen, sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Festakt in der Philharmonie. Die Christdemokratin nutzte die Gelegenheit zu einer tagespolitischen Anmerkung. Unter Verweis auf die menschenverachtende Ideologie der Nazis warnte sie davor, in der Diskussion über aktive Sterbehilfe das Tötungsverbot leichtfertig infrage zu stellen.

Literaturhinweis: Hartmut Traub: "Ein Stolperstein für Benjamin", Klartext-Verlag, ISBN: 978-3-8375-0902-1.